Rüdiger, Wolfgang

Orgel lehren und lernen

Brauchen wir eine „neue“ Orgeldidaktik?

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 55

Basierten in der Vergangenheit musikalische Biografien von OrgelspielerInnen meist auf einem vorhergehenden Klavierunterricht, so stehen Orgellehrende heute vor der Aufgabe, vielfältige Zugänge zu ihrem Instrument zu eröffnen. Über das Themenfeld Orgel und Unterricht sprach Wolfgang Rüdiger mit Christina Hollmann, stellvertretende Direktorin der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen, und Kirchenmusikdirektor Christoph Bogon, ehemaliger Präsident des Verbands der Evangelischen KirchenmusikerInnen in Deutschland.

Angesichts einer großen Bandbreite an Anforderungen, aber auch vor dem Hintergrund gravierender Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen, in Freizeit, Schule, Beruf, in kulturellen wie religiösen Kontexten, wirft eine Fachtagung an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen im Oktober 2021 – bewusst provokant – die Frage nach der Notwendigkeit einer „neuen“ Orgeldidaktik auf und lenkt von dort aus den Blick auf aktuelle methodische und didaktische Ansätze. Impulse zu digitalem Lernen, zu pädagogischen, psychologischen und physiologischen Aspekten des Übens, Ideen zum Lernen über Improvisation, zum Musik-Erleben vom ersten Ton an laden ein, Lehren und Lernen an der Orgel aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten, weiter zu denken und neu zu denken.

Liebe Christina Hollmann, als Königin der Instrumente steht die Orgel, deren Bau und Musik zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO zählen, als „Instrument des Jahres 2021“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es war Ihre Idee, diesem Universalinstrument eine pädagogische Tagung mit dem Titel „Orgel – Lehren & Lernen“ zu widmen. Wie kam es dazu?
Christina Hollmann: Das Thema „Lehren und Lernen“ ist ein Herzstück der Arbeit der Bundesakademie. All jene, die Kinder und Jugendliche für Musik begeistern und sie musikalisch fördern wollen, möchten wir unterstützen: mit aktuellem fachlichen Know-how und der Einladung, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen über den Berufsalltag hinaus erfrischende Perspektiven für die eigene Praxis zu entwickeln, diesmal nun für den Orgelunterricht.
Im Bereich der Kirchenmusik haben wir in den vergangenen Jahren gemeinsam mit den betreffenden Bundesverbänden wichtige Themen erarbeitet, die sich in Ausbildung und Praxis inzwischen fest etabliert haben, z. B. die Themen „Popularmusik“ und „Musikvermittlung im kirchlichen Bereich“. Da liegt es fast am Weg, einen vertiefenden Blick auf das Orgel-Lehren und -Lernen folgen zu lassen – ein Aspekt, der im Rahmen der vielfältigen Tätigkeitsfelder von Kirchenmusikerinnen und -musikern mehr Bedeutung und Beachtung verdient. Die Fülle der in letzter Zeit erschienenen Publikationen und Lehrwerke wie auch der vielen Diskussionen in der Szene bietet einen guten Anlass dazu. Entsprechend groß ist die Resonanz auf unsere Fachtagung.

Lieber Christoph Bogon, welche Themenfelder stehen im Vordergrund einer zeitgemäßen Pädagogik des Orgelspiels, die dem universalen Charakter des Instruments in Kirche und Konzert gerecht werden kann? Und an welche Zielgruppe richtet sich eine „neue“ Orgeldidaktik?
Christoph Bogon: Die Orgel und das Orgelspiel haben immer schon durch die vielfältigen klanglichen Möglichkeiten und die hohen Anforderungen an die körperliche Koordination fasziniert. Ein guter Unterricht hält diese Faszination aufrecht und muss es den Lernenden ermöglichen, mit dieser Vielfalt gekonnt umzugehen und dabei Hände wie Füße für ein optimales musikalisches Zusammenspiel auszubilden. Bislang haben meistens Jugendliche mit dem Orgelspiel begonnen, wenn sie vorher pianistische und musikalische Grundkenntnisse erworben hatten. Heute sehen wir schon die Motivation zum Orgelspiel bei Kindern im Grundschulalter. Gleichzeitig interessiert sich eine steigende Zahl von Erwachsenen für das Orgel-Lernen. Eine zeitgemäße Pädagogik muss also auch diese Zielgruppen in den Blick nehmen und darauf reagieren, dass das pianistische Eingangsniveau sehr unterschiedlich ist.

Orgelunterricht für Kinder, geht das denn aufgrund der Körpergröße überhaupt?
Bogon: Mittlerweile gibt es Hilfsmittel, die Kindern den Einstieg in das Pedalspiel ermöglichen, etwa Digitalorgeln mit auf Kindergröße verstellbaren Spieltischen oder Aufstecksätze für Pedaltasten. Die eigentliche Herausforderung für uns Orgelpädagoginnen und -pädagogen ist der instrumentale und musikalische Elementarunterricht, der bislang wenig gefordert wurde.

Nach welchen Kriterien wurden die Kooperationspartner sowie Referentinnen und Referenten ausgewählt und welche Impulse für Theorie und Praxis erhoffen Sie sich von der Tagung?
Hollmann: Die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen versteht sich ja als Vernetzerin verschiedenster Akteure und Expertisen. So sind beim Orgel-Thema die kirchenmusikalischen Verbände wichtige Kooperationspartner und Mitgestalter, ebenso die Hochschulen und der Verband deutscher Musikschulen. Kirchen und Musikschulen, auch Musikhochschulen, stehen nicht zuletzt durch Kirchenmusiker und -musikerinnen, die in mehreren Bereichen tätig sind, in enger Verbindung. Hier möchte die Tagung einen Transfer in alle Richtungen von Lehre, Praxis und Forschung eröffnen und nicht zuletzt auch eine neue Fassung des VdM-Lehrplans Orgel auf den Weg bringen – für Studierende ebenso wie für Berufspraktikerinnen und -praktiker, Lehrende in der Ausbildung, engagierte Amateure und Orgelenthusiasten.

Die Aufgabenfelder von Kirchenmusikerinnen und -musikern umfassen liturgische, künstlerisch-konzertante und pädagogische Tätigkeiten – vor allem Orgelunterricht, den viele Kirchenmusiker ohne pädagogisches Diplom erteilen. Benötigt eine aktuelle Ausbildung hier mehr instrumentalpädagogische und orgeldidaktische Anteile, vielleicht gar einen eigenen Schwerpunkt Orgel- bzw. Kirchenmusikpädagogik?
Bogon: Eigentlich ja, aber es fragt sich, wie dieser Schwerpunkt in das sehr volle Kirchenmusikstudium integriert werden kann. Eventuell müssen auch im Hauptfachunterricht pädagogische Fragestellungen eine größere Rolle spielen. Zum Beispiel ist die Vermittlung von zielgerichteten Übetechniken sowohl bei Anfängern wie bei Orgelstudierenden, die in ihrem Berufsleben wahrscheinlich auch unterrichten werden, immer ein Thema. Auch der kollegiale Austausch über Unterricht eröffnet einen Raum für neue Ansätze und Ideen. Das alles gehört in den Bachelorstudiengang Kirchenmusik und ist in vielen Studienordnungen bereits verankert.

Die Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahre zeigen, wie wichtig digitale Unterrichtsformen sein können. Spielt dieses Thema im Rahmen der Tagung eine Rolle?
Hollmann: Schon in unseren ersten Überlegungen – noch vor der neuen Zeitrechnung Corona – war klar, dass wir das Thema Digitalität mitdenken wollen und werden. Durch die aktuellen Erfahrungen bestärkt, setzen wir ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung von Lernformaten und das Ausloten von Möglichkeiten für eine Zeit nach der Pandemie. – Im Hinblick auf das Thema Orgel interessiert uns neben den unmittelbar einsetzbaren Tools ganz besonders auch das Setting des Kirchenraums. Wo können digitale Werkzeuge hier Vermittlungsprozesse unterstützen, stets freilich unter der Prämisse hoher Qualität der Inhalte, Ziele und Verfahrensweisen? Hier soll unsere Tagung Orientierung bieten und Impulse vermitteln, besonders auch mit Hilfe der Musikhochschule Trossingen und ihren Erfahrungen in der Forschung und im Umgang mit digitalen Medien.

Die Orgel ist ja nicht nur ein Tasten- und Pedalinstrument, sondern zugleich ein Blas­instrument. Inwieweit ist Körperlichkeit als Basis allen Musizierens ein Thema beim Orgelspiel? Kann die Orgel atmen, artikulieren, sprechen, singen – und sollten auch die Spielenden entsprechend singen und atmen?
Bogon: Ja, das kann sie! Gerade die Beschäftigung mit der historisch informierten Aufführungspraxis hat den Blick darauf gelenkt, wie sprechend, artikuliert, spannend und geradezu theatralisch z. B. Barockmusik auf dem Instrument dargestellt werden kann. Die Entwicklung von sinfonischen Klangkonzepten im Orgelbau des 19. Jahrhunderts macht die Orgel zu einem Instrument extremster dynamischer Gegensätze mit einer Fülle von Steigerungs- und Schattierungsmöglichkeiten. Diesen Kosmos zu beherrschen, ist in meinen Augen eine Hauptattraktion des Orgelspiels und fließt selbstverständlich in einen guten Unterricht mit ein. Die zweite große Aufgabe des Orgelspiels ist die Begleitung der singenden Gemeinde im Gottesdienst. Und ein guter Begleiter atmet immer mit… Auch auf der Orgel kriegt man eine gute Phrasierung nur mit guter gesanglicher Vorstellungskraft hin, das heißt beim Orgelspiel und im Orgelunterricht sollten Atmen und Singen selbstverständlich sein.

Sie sind beide Mit-Initiatorin bzw. Mit-Ini­tiator eines im Aufbau befindlichen Netzwerks Kirchenmusikvermittlung, das auf ein Symposium in Berlin 2017 zurückgeht. Dient die Tagung „Orgel – Lehren & Lernen“ auch als Baustein für dieses Netzwerk und umgekehrt?
Hollmann: Kirchenmusikvermittlung und Vermittlung von Musik im Orgelunterricht stehen für mich ganz dicht beieinander. Kirchenmusikerinnen und -musiker sind in all ihrem Tun vermittelnd unterwegs. In den vergangenen Jahren hat sich der Bereich der Kirchenmusikvermittlung durch eine Vielzahl an Aktivitäten professionalisiert und erweitert – eine sehr lebendige Landschaft, die nicht nur mit neuen Formaten nach außen geht, sondern der es auch gelingt, bislang vernachlässigte Zielgruppen mit Musik in Kontakt zu bringen. Hier spielt auch die Ansprache und damit Nachwuchsgewinnung von zukünftigen Kirchenmusikern eine große Rolle. In diesem Sinne verstehe ich unsere Fachtagung auch als einen Anstoß, den Unterricht an der Orgel inhaltlich und methodisch noch weiter zu professionalisieren.
Bogon: Die Tagung geht auf den ersten Blick in eine andere Richtung, da sie ja als Fach-Symposion für Multiplikatoren im Fach Orgelunterricht ausgelegt ist, während das Netzwerk Kirchenmusikvermittlung ein Austauschforum für musikerschließende Projekte im Bereich der musikalisch-ästhetischen Erziehung und Bildung sein soll. Guter Orgelunterricht und gute musikvermittelnde Projekte zur Orgel bedingen sich aber gegenseitig, und davon können beide Seiten profitieren. Insofern ist es bemerkenswert, dass es im Teilnehmerkreis der Tagung und im Netzwerk zahlreiche Überschneidungen gibt.

Lieber Herr Bogon, Sie geben selbst Orgelunterricht: Was fasziniert Sie persönlich an diesem Instrument und was möchten Sie davon an Ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben?
Bogon: Eine Orgel in ihrer Kirche oder ihrem Konzertsaal ist immer verbunden mit der sie umgebenden Kultur und ein Medium des kulturellen Gedächtnisses von Generationen. Wir sprechen von „Orgellandschaften“ mit jeweils räumlich und zeitlich bedingten unverwechselbaren Eigenschaften im Klang und Bau. Hier kann Kulturgeschichte sinnlich erfahren werden, und die Beschäftigung mit den jeweils angemessenen Spielweisen eröffnet immer wieder den Raum für neue Erfahrungen und andere Standpunkte. Dieses riesige kulturelle Gedächtnis zu vermitteln und auch der Gegenwart eine Stimme zu verschaffen, sind für mich immer die schönsten Aufgaben im Unterricht.

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