Lessing, Kolja (Hg.)

In the Spirit of Bach

Sechs Werke für Violine solo, Urtext

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2021
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 62

Wohl mehr als jeder andere Großmeister hat Johann Sebas-tian Bach Komponisten späterer Zeit durch seinen schier unerschöpflichen Gestaltungsreichtum inspiriert. Aus Anknüpfungen an Bachs vielfältige Stilistiken entstand in den nachfolgenden Epochen bis zur Gegenwart ein großer Reichtum an hervorragenden Werken, die sich nicht historisierend kostümieren, sondern Bachs Musik innovativ in jeweils zeitgenössische Kompositionsweisen projizieren.
Dies gilt auch für die sechs hochinteressanten Werke für Solovioline, die Kolja Lessing als Herausgeber aus Anlass des ins Jahr 2020 fallenden Jubiläums der vor 300 Jahren erfolgten Vollendung von Bachs sechs Sonaten und Partiten für Violine solo vorgelegt hat. Es sind dies die Suite g-Moll op. 43 (ca. 1872) von Ferdinand David, die Sonate D-Dur (1908) von Adolf Busch, die Ciacona op. 15 Nr. 2 (1924) von Emil Bohnke, die Sonate (1948) von Walter Lessing, die Toccata-Chaconne (1995/2009) von Veit Erdmann-Abele und die Sonata (1998) von Anton Kuerti. Bis auf die Suite von Ferdinand David handelt es sich um Erstveröffentlichungen. Widmungsträger der letzten beiden Werke ist Kolja Lessing, der mit seinem exzellenten Violinspiel einen starken Impuls zur Entstehung der Stücke gegeben haben dürfte.
Der kompositorische Radius der Werke reicht von der Spätromantik (David, Busch) über freie Tonalität (Bohnke), Bartók-nahen Neoklassizismus (Lessing) bis zu changierenden Spielarten Neuer Musik (Kuerti, Erdmann-Abele). Die Komponisten adaptieren insbesondere Bachs Diktionen barocker Tanzsätze, aber auch die Polyfonie bestimmter Sätze seiner Violinsolos, ferner folgen sie rhetorischen Gestaltungsweisen Bachs; Emil Bohnke setzt das traditionsreiche Spiel mit der B-A-C-H-Motivik fort. Nicht anders als Bachs Sei Solo, die bis heute den Gipfel der Sololiteratur für Violine und damit gewichtige Prüfsteine des geigerischen Könnens bilden, stellt jedes der sechs Bach nachfolgenden Werke erhebliche Ansprüche an die Ausführung.
Kolja Lessing verdeutlicht in seinem inhalts- und kenntnisreichen Vorwort die Persönlichkeiten der Komponisten sowie die entstehungsgeschichtlichen Hintergründe ihrer Werke, deren jeweilige Stilistik und ihre individuellen Bezüge zu Bachs Violinsolos. Ein kritischer Bericht informiert über die Quellen, über editorische Entscheidungen und Ergänzungen sowie deren Kennt­lichmachung.
Die Ausgabe ist sehr sorgfältig und wohlüberlegt gestaltet. Frei gelassene und ausklappbare Seiten ermöglichen ein Spiel ohne Unterbrechung durch hinderliches Umblättern. Die Reproduktion eines bisher ungedruckten handschriftlichen Briefs von Ferdinand David über sein Gefallen an seiner soeben fertiggestellten Suite bildet eine schöne Beigabe. Zu hoffen ist, dass in nicht zu ferner Zukunft eine Aufnahme mit Kolja Lessings Interpretation der sechs von ihm so vorzüglich edierten Werke erscheint.
Ulrich Mahlert