Marcello, Benedetto

Sonate Nr. 1 F-Dur

für Violoncello und Basso continuo, Urtext, hg. von Annette Oppermann

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henle, München 2021
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 62

Wer hat Benedetto Marcellos Cellosonaten geschrieben? Die Frage nach der Autorschaft wirft Annette Oppermann im Vorwort der vorliegenden Edition zu Recht auf. Zwar weisen die beiden Druckausgaben von 1732 (Amsterdam und London), auf die sich die Neuausgabe stützt, den venezianischen Meister als Komponisten aus. Doch ungewöhnlich mutet es schon an, wenn zu einer Zeit, da Marcello nur noch wenig komponierte, Ins­trumentalmusik aus seiner Feder weit entfernt von Venedig erscheint.
Auch die Frage der Besetzung bedarf der Erörterung. Die Solopartien der Sonaten bewegen sich über weite Strecken in auffällig hohen Lagen und enthalten einige Griffkombinationen, die SchülerInnen durchaus Prob­leme bereiten. Vermutlich – zu diesem Ergebnis kommt auch Gerhart Darmstadt in seiner 2008 erschie-nenen Schott-Ausgabe – wurden die Werke zum Teil für Saitenstimmungen geschrieben, die nicht unserer normierten C-G-D-A-Stimmung entsprechen. Oder Marcello (wenn er es denn war!) dachte an ein fünfsaitiges Cello mit hinzugefügter hoher Saite?
Oppermanns akribisch edierte Ausgabe verwendet den Amsterdamer Erstdruck (E) als Hauptquelle, die Londoner Ausgabe (AGLo) geht mutmaßlich ihrerseits auf die Amsterdam-Version zurück. Lediglich in einem Takt des dritten Satzes enthält Quelle E eine seltsame, vielleicht fehlerhafte Continuo-Wendung, hier gibt der Oppermann-Text als Alternative auch denselben Takt nach AGLo an.
Die Ausgabe enthält neben der Partitur eine Violoncello und Basso-Stimme sowie eine reine Cellostimme, die im Gegensatz zu den anderen Stimmen den Solopart komplett im Bassschlüssel wiedergibt. Angesichts der hohen Beliebtheit der Sonate als Unterrichtsliteratur ist dies völlig legitim. Dennoch wäre im Rahmen einer Urtextausgabe die Frage der Schlüsselung eine Randbemerkung wert: Alle Partien, die in ihrem Verlauf das kleine f unterschreiten – der tiefste Ton des Soloparts ist das große G –, sowie jene, die in die Dominanttonart C-Dur modulieren, werden in der Regel im Bassschlüssel notiert, alle anderen stehen im Tenorschlüssel. Dies entspricht vermutlich den Druckausgaben E und AGLo und war durchaus Komponistenpraxis des 18. Jahrhunderts.
Den Fingersatz- und Strichbezeichnungen durch Thomas Klein in der Solostimme mag man nicht durchweg folgen: Takt 9 des ersten Satzes „verkehrt herum“ zu streichen, untergräbt die Takthierarchien und ergibt falsche Betonungen. Auch einige Abstrich-Auftakte im vierten Satz befremden. Das f’ in Takt 1 des zweiten Satzes könnte gern im Aufstrich genommen werden, da sich „unterhalb“ des Tons auf der Zählzeit 1 des nächsten Takts die Harmonie ändert. (Zugegeben: Einen Takt später funktioniert dies nicht.) Und ein Flageolett-D im 2. Takt des ersten Satzes verleiht der Stelle einen unangemessenen Fin de siècle-Duft.
Gerhard Anders