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Anton, Victoria

Durchatmen!

Wie Gesangsunterricht als Regenerationsbegleitung Long-Covid-Betroffenen helfen kann

Rubrik: Gesundheit
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 38

Long-Covid ist eine der vielen Folgen der Corona-Pandemie. Singen kann helfen, den Heilungsprozess zu unterstützen – mit einem ganzheitlichen Konzept.

Es war bei einer Online-Fortbildung des Bundesverbands deutscher Gesangspädagogen (BDG) im Mai 2021, als ich zum ersten Mal mit detaillierteren Informationen zu den Folgen einer Covid19-Erkrankung konfrontiert wurde. Jördis Frommhold, Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien in der Median Klinik Heiligendamm, berichtete über erste Erfahrungen in der Post- bzw. Long-Covid-Rehabilitation. Stichworte wie Flachatmung, Atemtechnik und Atemmuskeltraining ließen mich aufhorchen, denn all diese Begriffe kennen wir GesangspädagogInnen aus der täglichen Unterrichtspraxis.
Frommhold berichtete von PatientInnen, die nach einer Covid19-Erkrankung zwar zunächst als genesen gelten, jedoch noch lange Zeit mit den Spätfolgen der Infek­tion zu kämpfen haben. Unter anderem leiden sie oft unter verhärteter Atemmuskulatur, weshalb sie statt der erwünschten Tiefatmung in eine Schonatmung verfallen. Ihnen fehlen dadurch Ausdauer und Kraft für alltägliche Dinge wie zum Beispiel Treppensteigen, da ihnen buchstäblich die Luft ausgeht. Hinzu kommen weitere Symp­tome neurologischer Natur wie Konzent­rations- und Wortfindungsstörungen oder Fatigue, eine anhaltende Müdigkeit und Abgeschlagenheit. In der im August 2021 veröffentlichten S1-Leitlinie „Post-COVID/ Long-COVID“ wird außerdem von Kopfschmerzen, Riech- und Schmeckstörungen, Husten, Herzrasen Depression und Ängsten berichtet.1
Die vielfältigen Beschwerden lassen sich hierbei nicht „Long-Covid“ oder „Post-Covid“ zuordnen. Die Begriffe werden in der Leitlinie für verschiedene Zeitperioden verwendet, in denen nach einer Infektion Spätfolgen auftreten oder Symptome hinzukommen können. Derzeit wird „Long-Covid“ als Bezeichnung für Symptome vorgeschlagen, die vier Wochen nach einer akuten Erkrankung mit Covid19 neu auftreten und über zwölf Wochen hinaus weiter anhalten.2

Therapeutischer Ansatz

Wenn auch die Forschung noch andauert, so scheint doch deutlich zu werden, dass die Folgen einer Infektion individuell sehr unterschiedlich sind und das Krankheitsbild bisher noch nicht ursächlich behandelt werden kann. Somit „orientiert sich die Therapie vielmehr an den einzelnen Symp­tomen“.3 Hier kommt die Gesangspädagogik ins Spiel. Wie bereits erwähnt, ist gerade die Atmung eines der Fachgebiete von Gesangslehrkräften. Normalerweise wird diese eher leistungsorientiert trainiert, da die Atemmuskulatur eine entscheidende Rolle für die Stimmgebung spielt und somit kräftig und flexibel sein muss. Die Herausforderung in der Arbeit mit gesundheitlich vorbelasteten Menschen ist also eine andere Zielsetzung und dadurch auch ein anderes Vorgehen – ein therapeutischer Ansatz.
Im BDG-Intensivseminar „Durchatmen! Regenerationsbegleitung bei Long-Covid“ im August 2021 wurden wir teilnehmenden GesangspädagogInnen auf diese Arbeit vorbereitet, indem unser vorhandenes Wissen über Atemtraining und Körperbewusstsein ausgebaut und wir für die speziellen Bedürfnisse von Long-Covid-Betroffenen sensibilisiert wurden.

Regenerationsbegleitung

Eine Unterrichtseinheit in der Regenera­tionsbegleitung kann – je nach Bedürfnissen der Betroffenen – viele verschiedene Bestandteile haben. Weniger ist dabei mehr, eine Überforderung ist aus medizinischer Sicht unbedingt zu vermeiden. Als GesangspädagogInnen wissen wir außerdem um die Bedeutung einer guten Atmosphäre, denn negative psychische Faktoren können auch uns die Stimme nehmen. Dies ist in der Arbeit mit Long-Covid-Betroffenen noch viel wichtiger, da sie möglicherweise traumatische Erfahrungen auf Intensivstationen hinter sich haben oder durch viele Monate des Leids dünnhäutiger geworden sein können.
Eine Unterrichtsstunde beinhaltet körperliche Übungen wie in einer normalen Gesangsstunde. Es wird jedoch nicht mit aktiver Kräftigung begonnen, der Fokus liegt stattdessen vor allem auf der Dehnung des Gewebes, da es meist durch die Krankheit fibrotisch ist, sich also vermehrt hat und verhärtet ist. Dies verhindert eine natürliche Lungenfunktion. Übungen für die Faszien können in verschieden Schwierigkeitsstufen gemacht werden: von schmelzenden Dehnungen, bei denen man sich seitlich oder rücklinks über einen Ball oder ein Kissen legt und dadurch den Brustkorb öffnet, über sitzende Übungen, bei denen ein Stuhl zum Gegenspieler der Bewegung wird, bis hin zu Übungen im Stehen.
Immer wird die Dehnung in der Länge gesucht und mit kleinen Hilfsmitteln wie beispielsweise einem Cup – eine kleine Saugglocke aus Silikon – unterstützt. Außerdem wird das Gewebe in der Tiefe angesprochen, indem ein leichtes Tönen auf „Ha“ oder „Ho“ bei der Ausatmung eingesetzt wird und die Einatmung daraufhin möglichst reflektorisch stattfindet.
Mit gedehnten Faszien kann die Atemmuskulatur besser arbeiten und isolierte Atemübungen können effektiv wirken. Auch im Gesangsunterricht kann ein erster Schritt sein, von einer einseitigen Hochatmung wegzukommen und die Bauchmuskulatur zu integrieren. In der Regenerationsbegleitung ist dies unter Umständen schwieriger, wenn Muskulatur sehr verkrampft oder geschwächt ist. Verschiedene Übungen für Tiefatmung aus der Gesangspädagogik können hier trotzdem gut Anwendung finden, beispielsweise indem die Atmung „in den Bauch“ durch ein Nachspüren in der Rückenlage angeregt wird. Gesungen werden muss nicht zwangsläufig, auch verlängerte Vokale beim Sprechen eines Wortes oder Summen können guttun: Einige Betroffene erzählten von einer wohltuenden Wirkung der Vibration im Körper.

Vom Tönen zum Singen

Wenn die Betroffenen in ihrer Regenera­tion weiter fortgeschritten sind, kann die Lungenfunktion noch stärker trainiert werden. Auch OpernsängerInnen nutzen die sogenannten SOVTE (Semi occluded vocal tract exercises): Übungen, bei denen der Luft in der Ausatmung ein zusätzlicher Widerstand geboten wird. Die Lungen werden hierbei in der Ausatmung weit gehalten, beim Tönen gibt es einen Druckausgleich auf der Ebene des Kehlkopfs und der Einatmungsimpuls wird verstärkt. Erreicht wird dies zum Beispiel durch den LAXVOX®-Silikonschlauch, der die Ausatmung in eine gefüllte Wasserflasche sichtbar macht.4 Hier können auch schon vorsichtig Gesangsübungen durch ein tönendes „uh“ in den Schlauch gesungen werden.
Leichtes Liedgut kann die Regeneration ergänzen, zum Beispiel Schlaf- und Wiegenlieder. Der beruhigende Effekt der Melodien spielt uns dabei in die Hände, denn weiterhin ist Stressabbau ein wichtiger Nebeneffekt dieses besonderen Unterrichts. Das Programm „Breathe“ der English National Opera nutzt ebenfalls Lullabys, da sie vielen Menschen bekannt, kurz und eingängig sind und somit niedrigschwellig zum Singen führen.5

Körper und Geist

Stressabbau ist auch durch gezielte Übungen aus dem Qigong erreichbar. Qigong lässt als meditative Kombination von Atem und Körperarbeit „in einfachen, sanften Bewegungen […] die Erfahrung machen, mich wieder wohl im eigenen Körper zu fühlen und wieder das Vertrauen […] zu entwickeln, dass ich gut [für] mich sorge“.6 Es ist spannend zu entdecken, wie viele Parallelen es zwischen den Konzepten der Atemtherapie, der Faszienlehre und den Übungen aus dem Qigong gibt. So lässt sich in jedem Bereich eine Übung finden, die durch sanftes Bewegen der Arme eine natürliche, reflektorische Atmung stimuliert.
Körper und Geist im Einklang – auch aus musikpädagogischer Arbeit kennen wir diese Wirkung musikalischer Tätigkeit oder versuchen, sie gezielt zu erzeugen. Für viele MusikerInnen ist die Zeit, in der sie singen oder ihr Instrument spielen, eine Möglichkeit, aus dem Alltag herauszukommen. Man kann sich auf neue Dinge fokussieren, von Prob­lemen ablenken, auf körperliche oder geistige Fähigkeiten konzentrieren und die Wahrnehmung auf Bereiche lenken, die im Alltag eher untergehen.
All dies können wir uns auch in der Regeneration von Long-Covid-Betroffenen zu Nutze machen. Die positiven Auswirkungen von musikalischer Betätigung unterstützen zusätzlich den Heilungsprozess. Als GesangspädagogInnen haben wir die Möglichkeit, Musik aktiv in den Regenerationsprozess einzubauen. So kann unsere gesangspädagogische und musikalische Erfahrung, in Kombination mit den umfangreichen Inhalten der Schulung des BDG zur Regenerationsbegleitung, zu einer neuen Chance für viele Betroffene werden, ihren Weg zu vollständig genesenen Menschen zu finden.

1 vgl. S1-Leitlinie „Post-COVID/Long-COVID“, S. 59, online: AWMF online – Das Portal der wissenschaftlichen Medizin, www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/020-027.html (Stand: 1.3.2022).
2 vgl. ebd.
3 Berit Uhlmann: „Hilfe für Long-Covid-Patienten“, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.8.2021.
4 siehe auch www.laxvox.de
5 vgl. www.eno.org/eno-breathe/about-the-eno-breathe-programme (Stand: 7.1.2022).
6 https://ddqt.de/taijiquan-qigong/qi-gong-uebungen-zur-kultivierung-von-koerper-und-geist (Stand: 9.1.2022).

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2022.