Michel, Annemarie

„Improvisation als pädagogisches Mittel“ auf dem Weg zur „kollektiven Verantwortung“

Vinko Globokar (*1934) zur Bedeutung der Improvisation in der Instrumental- und Vokalausbildung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 44

Auf der Suche nach Statements zur Improvisation in musizierpädagogischen Zusammen­hängen stieß ich auf diesen kurzen Text des französisch-slowenischen Posaunisten, Komponisten und Improvisators Vinko Globokar (geb. 1934).1 Sogleich wunderte ich mich über den Titel „Improvisation als pädagogisches Mittel“. Wieso nicht schlicht „Improvisation im Musizierunterricht“? Weshalb ordnet Globokar die Improvisation als ein „Mittel“, als eine Funktion und nicht als Selbstzweck ein? Neugierig lese ich weiter und vernehme die Stimme eines Komponisten ganz im Zeitgeist der 1950er und 1960er Jahre: Wie unter anderem John Cage, Earl Brown oder Karlheinz Stockhausen setzte sich auch Globokar mit verschiedenen Möglichkeiten auseinander, um die Genese von Musikstücken zu einem kollektiven Prozess zu machen, bei welchem nicht nur KomponistInnen, sondern ebenso InterpretInnen über die konkrete Realisierung im Moment der Aus- bzw. Aufführung mitbestimmen sollten.2 Das kompositorische bzw. aufführungspraktische Ideal wurde in der „kollektiven Kreativität“ gesehen.
Doch offenbar musste Globokar feststellen, dass es den heranwachsenden mitverantwortlichen „Co-Kompositeuren“ dazu an musikalischen wie künstlerischen Kompetenzen fehlte und sich folglich die Instrumental- und Vokalausbildung dem zeitgemäßen Musik- und Musizierverständnis entsprechend neu zu begründen hätte. Im Zentrum eines in diesem Sinne guten Unterrichts steht für ihn die Förderung von „Erfindungsgabe und Kreativität“ sowie die „individuelle Entfaltung“ der Lernenden hin zu selbst-bewussten wie selbstbestimmten, kritisch reflektierenden Musikerpersönlichkeiten, nicht zuletzt mit dem Ziel, einen „Sinn für kollektive Verantwortung“ zu vermitteln – darin bestehe letztlich „die Funktion der zeitgenössischen Pädagogik“. Vielmehr als die zum „rigorosen Individualismus“ führende Beschäftigung mit Interpretation scheint ihm die kollektive Improvisation ein geeigneter Weg zu diesen Zielen hin.

1 Vinko Globokar: „Improvisation als pädagogisches Mittel“, in: Vinko Globokar: Einatmen – Ausatmen, hg. von Ekkehard Jost und Werner Klüppelholz, Wolke-­Verlag, Hofheim 1994, S. 53-55.
2 Rudolf Frisius: Art. „Improvisation. Veränderungen im Verhältnis von Komposition und Improvisation seit den 1950er Jahren“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe, Sachteil, Band 3, Kassel 1996/2016, Sp. 589-593.

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