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Göllner, Michael

Wildes Lernen in der Schulklasse?!

Die Instrumentalklasse als musikalische Praxisgemeinschaft aus Sicht der Schülerinnen und Schüler

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 18

Das Interesse an Autodidaktik lenkt den Blick vor allem auf die Lernenden selbst. Am Beispiel des Bläserklassen­unterrichts geht der Beitrag der Frage nach, welche Räume für in­formelle Lernprozesse sich in einem formalen Musiziersetting aus Sicht der Beteiligten eröffnen können.

Bereits 2008 erschütterte Lucy Greens Buch Music, informal learning and the school1 die Vorstellung, Lernen folge innerhalb und außerhalb von Bildungsinstitutionen ganz unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Die Beiträge des Wiener Symposiums „Vom wilden Lernen“,2 auf das der Titel des vorliegenden Beitrags anspielt, setzten diesen Diskurs fort und vertieften ihn mit Blick auf die Musikschularbeit.3 Rasch wurde dabei deutlich, dass „informelle“ und „formale“ Lernorte weder gegensätzliche Entitäten darstellen noch sich mit institutionellen Räumen (etwa der Schule auf der einen und freizeitlichen Kontexten auf der anderen Seite) gleichsetzen lassen.4 Lernen kann vielmehr immer und überall stattfinden – gerade Kinder und Jugendliche lernen eine Vielzahl von Dingen, ohne dass sie dafür jemals formalen Unterricht erhalten. Eine Unterteilung in „informelle“ und „formale“ Lernsituationen oder -prozesse ergibt daher wenig Sinn.5
Die titelgebende Begrifflichkeit des „wilden Lernens“ ist insofern nicht als Romantisierung des außerschulischen Lernens zu verstehen, sondern als Hinweis auf die prinzipiell unkontrollierbare Natur von Lernprozessen. Nachhaltiges Lernen zeichne sich immer durch „Unberechenbarkeit, Eigensinnigkeit und Selbstbestimmung“6 aus. Diese Merkmale werden zwar häufig informellem Lernen zugeschrieben, glücklicherweise muss mit ihnen aber auch im Kontext von (Musik-)Schulen gerechnet werden.
Wie aber lässt sich ein solches Lernen in didaktischen Kontexten fördern? Günter Kleinens Feststellung, „in unterrichtlichen Situationen [sei] per definitionem kein Raum für das autodidaktische Lernen[,] [g]leichwohl [werde] die Pädagogisierung versucht“,7 bringt die Problematik solcher Bemühungen auf den Punkt: Die „Pädagogisierung“ unpädagogischer Musizier- und Lernpraxen wirkt ebenso paradox wie eine „Informalisierung“ schulischen Lernens.8

Lernen kann immer und ­überall stattfinden – gerade Kinder und Jugendliche lernen eine Vielzahl von Dingen, ohne dass sie dafür jemals formalen Unterricht erhalten.

Auf der anderen Seite wird gerade Gruppen- und Ensemblekontexten ein hohes Potenzial für die Eröffnung informeller Lernräume zugesprochen:9 Musikalische Aktivitäten mit anderen ermöglichen ja nicht nur ästhetisch-künstlerische Erfahrungen; sie bieten auch vielfältige Möglichkeiten für musikalisches Lernen zwischen den Beteiligten – sei es durch Beobachtung und Imitation oder bei subtileren Interaktionsformen im Bereich des Peer-Learnings.10 Peter Röbke hat in diesem Zusammenhang die Idee der „musikalischen Praxisgemeinschaften“11 ins Spiel gebracht. Anknüpfend an Jean Laves und Etienne Wengers Theorie der „Communities of practice“12 versteht er darunter soziale Wissenstrukturen, die um eine gemeinsame musikalische Praxis entstehen und die in hohem Maße lernwirksam sind. Lernen wird dabei weder als reiner Fertigkeitserwerb noch als direktes Ergebnis von Unterricht aufgefasst, sondern als Prozess der wachsenden Teilhabe an der gemeinsamen Musiziergemeinschaft.13
Mit Blick auf Großgruppen-Kontexte wie Bläserklassen oder dem JeKi(ts)-Orchester plädiert Röbke dafür, dieser Spur auch in didaktischer Hinsicht zu folgen: „Was aber wäre, wenn wir den Spieß umkehrten und den Ausgangspunkt Großgruppe nicht als methodische Verschlechterung betrachteten, sondern als Chance, eben jene motivierende musikalische Praxisgemeinschaft zu schaffen […] (und sei diese Praxisgemeinschaft dann auch eine ‚künstlich‘ geschaffene oder veranstaltete)?“14 Natalia Ardila-Mantillas Studie zur Musikschularbeit in Österreich15 hat mittlerweile eindrücklich gezeigt, wie Musikschullehrende Lernwelten wie die der Ensembles nutzen und behutsam mitgestalten können. Dennoch bleiben Fragen offen: Wie verhält es sich mit Lernangeboten im Kooperationsbereich, die in die Logik unterschiedlicher Ins­titutionen eingebunden sind? Und müssten wir uns im Zusammenhang mit der Frage nach Möglichkeiten und Bedingungen informellen Lernens nicht viel stärker dafür interessieren, wie eigentlich Schülerinnen und Schüler die entsprechenden Kontexte erleben? Anlass genug, mit dem Instrumentalklassenunterricht einmal ganz bewusst einen formalen Lernort unter die Lupe zu nehmen und zu fragen: Wie erleben eigentlich SchülerInnen diesen Unterricht und welche Rolle spielen dabei informelle Lernprozesse?

Beispiel aus der Forschungspraxis

Die Geschichte, um die es nun geht, entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Bläserklassenunterricht.16 Ausgehend von der Frage, wie Lehrende des Schulfachs Musik, InstrumentalpädagogInnen sowie SchülerInnen ihren gemeinsamen Bläserklassenunterricht erleben und bewerten, wurden in drei unterschiedlich konzipierten Bläserklassen qualitative Interviews geführt. Die Schülerinnen17 wurden am Ende der sechsten Klasse befragt; unter anderem dazu, wie sie rückblickend über ihre Bläserklassenzeit denken. Das Interviewmaterial wurde intensiv ausgewertet und die Perspektiven der Beteiligten permanent miteinander verglichen.
Ein zentrales Ergebnis, das sich dabei zeigte, mag zunächst trivial klingen: Alle Beteiligten betrachteten das Musizieren im Klassenorchester als den bedeutsamsten Aspekt des Unterrichtsangebots. Überraschend war aber, wie eng in den Äußerungen der Schülerinnen Aspekte des Musizierens und Musiklernens mit sozialen Aspekten verflochten waren: Es ging nicht allein darum, dass ihnen Instrumentalspiel wichtig war – mindestens ebenso relevant war, dass es gemeinsam mit anderen stattfand. Diese Verflechtung musikalischer und sozialer Phänomene wurde insbesondere in dem Rückblick einer Schülerin deutlich, den ich darum ausführlicher darstellen möchte.18

1 Green, Lucy: Music, informal learning and the school: a new classroom pedagogy, Aldershot 2008.
2 Der Untertitel des Symposiums lautete: „Formale und informelle Lern- und Lehrprozesse bei der Entwicklung instrumentaler und vokaler Fähigkeiten“.
3 vgl. Röbke, Peter/Ardila-Mantilla, Natalia (Hg.): Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht, Mainz 2009.
4 Auf die Differenzierung zwischen formalem Lernen, das in Institutionen stattfindet und auf Zertifikatserwerb zielt, non-formalem und informellem Lernen kann hier nicht weiter eingegangen werden (siehe dazu Dartsch, Michael: „Lernformen und Lernwege“, in: Dartsch, Michael/Knigge, Jens/Niessen, Anne/Platz, Friedrich/Stöger, Christine (Hg.): Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen, Forschung, Diskurse, Münster 2018, S. 169-176, hier: S. 171). Vgl. Mak, Peter: „Formal, non-formal and informal learning in music. A conceptual analysis“, in: Röbke/Ardila-Mantilla (Hg.), Vom wilden Lernen, a. a. O., S. 31-44.
5 vgl. Ardila-Mantilla, Natalia: „Außerinstitutionelle Lernräume“, in: Dartsch/Knigge/Niessen/Platz/Stöger (Hg.), Handbuch Musikpädagogik, a. a. O., S. 397-405, hier: S. 398.
6 so die HerausgeberInnen Peter Röbke und Natalia Ardila-Mantilla auf dem Buchrücken zu: Vom wilden Lernen, a. a. O.
7 Kleinen, Günter: „Entmythologisierung des autodidaktischen Lernens“, in: Rösing, Helmut (Hg.): Populäre Musik im kulturwissenschaftlichen Diskurs I, Karben 2000, S. 123-139, hier: S. 125, online verfügbar unter http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/5212 (Stand: 19.4.2022).
8 siehe Ardila-Mantilla, „Außerinstitutionelle Lernräume“, a. a. O., hier: S. 404.
9 siehe Dartsch, „Lernformen und Lernwege“, a. a. O., hier: S. 171.
10 siehe Harring, Marius: „Freizeit, Peers und Musik“, in: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Chris­tian (Hg.): Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden 2013, S. 293-322, hier: S. 299.
11 siehe Röbke, Peter: „Lernen in der musikalischen Praxisgemeinschaft. Wie der ,formal/informal‘-Diskurs überlagert wird“, in: Röbke/Ardila-Mantilla, Vom wilden Lernen, a. a. O., S. 159-168.
12 siehe Lave, Jean/Wenger, Etienne: Situated learning: legitimate peripheral participation, Cambridge 192008 (1. Aufl. 1991).
13 vgl. Ardila-Mantilla, Natalia/Busch, Thomas/Göllner, Michael: „Musiklernen als sozialer Prozess. Drei theoretische Perspektiven“, in: Gruhn, Wilfried/Röbke, Peter (Hg.): Musiklernen. Bedingungen – Handlungsfelder – Positionen, Innsbruck 2018, S. 178-203, hier: S. 185-192.
14 Röbke, „Lernen in der musikalischen Praxisgemeinschaft“, a. a. O., hier: S. 166.
15 Ardila-Mantilla, Natalia: Musiklernwelten erkennen und gestalten. Eine qualitative Studie über Musikschularbeit in Österreich, Wien 2016.
16 Das Vorhaben wird detaillert vorgestellt in Göllner, Michael: Perspektiven von Lehrenden und SchülerInnen auf Bläserklassenunterricht. Eine qualitative Interviewstudie (Perspektiven musikpädagogischer Forschung, Band 6), Münster 2017. Ein komprimierter Überblick findet sich in Göllner, Michael: „Perspektiven von Lehrenden sowie Schülerinnen und Schülern auf das Vexierbild Bläserklassenunterricht. Eine qualitative Interviewstudie“, in: Cvetko, Alexander J./Rolle, Christian (Hg.): Musikpädagogik und Kulturwissenschaft. Music education and cultural studies (Musikpädagogische Forschung, Band 38), Münster 2017, S. 251-267, online verfügbar unter https://doi.org/10.25656/01:15669 (Stand: 19.4.2022).
17 Aus forschungspragmatischen Gründen lag der Fokus auf dem Querflötenregister, die Flötengruppen bestanden ausschließlich aus Mädchen.
18 Der Erzählimpuls lautete: „Du hast ja nun schon seit zwei Jahren Bläserklassenunterricht. Wie ist das denn so?“ Die Antwort der Schülerin lässt sich nachlesen in Göllner, Perspektiven von Lehrenden und SchülerInnen…, a. a. O., S. 229.

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