© hayo_www.stock.adobe.com

Spanhove, Bart

Sein eigener Lehrer ­werden

Üben als autodidaktische Tätigkeit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 22

Seit vierzig Jahren beschäftige ich mich damit, wie Musikstudierende üben. Als Ideal plädiere ich für ein ­möglichst weitgehend autodidaktisch gestaltetes Üben.

Zur Autodidaktik (von griechisch autos und didaskein: sich selbst etwas lehren) gibt es eine Fülle von Literatur, in der genau beschrieben wird, wie selbstständiges Üben geht, wie man sich die Lehrperson sparen und seine Musikalität in Eigenregie entfalten kann. Ich werde versuchen, mich dem Thema unvoreingenommen zu nähern. Allerdings halte ich einen Coach für zeitweise absolut notwendig. Meine Inspirationsquelle ist oft der Sport, weil hier alles professionalisiert ist: Trainingsmethoden und -aufbau, Teambuilding, Ernährung etc. Im Sport sind Trainerinnen und Trainer nicht wegzudenken. Und auch in der Musik betonte schon Johann Joachim Quantz in seinem Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen (1751) die Bedeutung eines guten Lehrers, der den Schüler mit seinem Wissen und seiner Erfahrung wie ein Supervisor leitet und motiviert: „Bey einem guten Meister kann man es in einem Jahre weiter bringen, als bey einem schlechten vielleicht in zehn Jahren.“1 Gleichwohl habe ich aufgrund eigener Erfahrung das autodidaktische Lernen immer mehr schätzen gelernt.

Meine Vorstellung vom Üben

Als Student reiste ich durch ganz Europa und saugte bei Workshops und Meisterkursen begierig alles über die Blockflöte und Alte Musik auf. Heute habe ich schon 37 Jahre lang keinen Lehrer mehr und fühle mich wohl damit, meinen Weg selbst zu finden. In meinem Buch Oefen het oefenen (Das Üben üben)2 beschreibe ich, dass beim Üben vier Aspekte in ausgewogenem Verhältnis stehen müssen:

1. Musizieren
Eine Interpretation entwickeln und über sie nachdenken. Die musikalische Entdeckungsreise, die Suche nach immer subtileren Gefühlen. Musikalische Gedanken ausspinnen, der Musik Gestalt geben, musikalische Struk­turen identifizieren, innere Bilder und Klangfarben entwickeln, eine interpretatorische Idee finden, sich mit Ausdruck, Rührung und dem Zuhören beschäftigen. Kurz: musikalische Ideen und Leidenschaft für die Musik.

2. Technik
Den Notentext kennen, technische Herausforderungen beherrschen, die Technik ausarbeiten und Basistechniken pflegen. Automatisierung von Spieltechniken und Körperbewegungen. Im Mittelpunkt stehen hier Entspannung, Geläufigkeit, Motorik, Tonleitern, Notenlesen, Tonqualität, Intonation, Fingerfertigkeit und Artikulation.

3. Üben
Die Technik des guten Übens. Über sein Tun nachdenken und Übegewohnheiten verbessern. Wie lernt man mit Kopf, Hand, Herz, Ohr und Auge? Wie übt man real und wie mental? Das Ziel ist die Selbstständigkeit.

4. Informationen
Wo finde ich Informationen, die meinem Musizieren zugute kommen? Wie nutze ich sie?

Beim Üben diese vier Aspekte zu beachten, bringt spannende Erkenntnisse und regt zu täglich neuen, fantasievollen Übestrategien an. Man ist Regisseur seines eigenen Übens. Gleichzeitig strukturiert die Einteilung das tägliche Üben und hilft, es stetig zu verbessern und zu verfeinern. Alle vier Aspekte sind wichtig: Wer nur Technik (2) übt, klingt wie ein Roboter. Wer immer nur spielt (1), ist irgendwann frust­riert, weil er seine musikalischen Vorstellungen nicht umsetzen kann. Die Interpretation eines uninformierten Musikers (4) hat keine Glaubwürdigkeit. Meine Studierenden sagen manchmal, das Nachschlagen koste so viel Zeit. Aber wie kann man eine (barocke) Sarabande richtig interpretieren, wenn man ihre typischen Merkmale nicht kennt, oder ein Werk von Bach verstehen ohne Grundlagen der Analyse? Besonders lohnend ist es, sich mit dem Aspekt des Übens selbst (3) zu beschäftigen. Gerhard Mantels Konzept der rotierenden Aufmerksamkeit hilft, motiviert zu bleiben: tägliches Wiederholen, ohne jemals genau dasselbe zu machen. Üben ist etwas, das man selbst tun muss. Es ist die zeitaufwändigste Tätigkeit eines Musikers oder einer Musikerin und hört nie auf. Entwickeln Sie gute Übestrategien, denn Musikalität ist keine Frage der Begabung, sondern der Begabungsentwicklung.

Lernen damals und heute

Zu Johann Sebastian Bachs Zeiten wohnten Schüler im Haus ihres Lehrers und wurden dort täglich unterrichtet. Was für ein Luxus! Noch vor einem halben Jahrhundert galten Lehrkräfte in Belgien als allwissend. Sie referierten den Lehrstoff und was sie sagten, wurde nicht infrage gestellt: „Kauft diese Ausgabe, nehmt diese Fingersätze, stellt das Metronom auf 120 und guckt euch ab, wie ich es mache.“ Der Lehrer nahm einem das ganze Denken ab, und in gewisser Weise war das sehr effizient. Die Frage nach dem Wie des Übens wurde kaum gestellt, die Frage nach dem Warum geflissentlich übergangen. Die eigene Suche der Schülerinnen und Schüler war kein Thema. Obwohl viele SchülerInnen auf diese Weise gute Ergebnisse erzielten, ist ein solcher Ansatz keine Garantie für gelingendes Musizieren. Denn Lehrpersonen sollen zwar coachen, anleiten oder Wege aufzeigen, aber letztendlich sollten die Schülerinnen und Schüler ihr Üben selbst gestalten können.

1 Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752, Reprint (mit einer Einführung von Barthold Kuijken), Wiesbaden 1988, S. 9.
2 Spanhove, Bart: Oefen het oefenen, Leuven 2022.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2022.