© Florian Beyer

Beyer, Florian

„Radio Zukunft“: Aliens und Erd-Evakuierungsstationen

Kompositions- und Performanceprojekt „Zukunftsmusik“ zum 50-jährigen Bestehen der Musikschule Rüsselsheim

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 48

„Zukunftsmusik“ ist das Thema, das sich der Kulturbetrieb Kultur123 der Stadt Rüsselsheim für das Jubiläumsjahr der Musikschule auf die Fahne geschrieben hat. Anlässlich des 50. Geburtstags der Musikschule war es das Ziel, sich wesentlichen Fragen unserer Zeit und den Herausforderungen der Zukunft für Musikschulen zu stellen. Wie können ­Musikvermittlung und Musikschule in der Zukunft aussehen? Welche Rolle spielen Kultur und kulturelle Bildung in der Zukunft? Welche Musik und welches Instrumentarium wird die Zukunft mit sich bringen? Und wie können die Bedürfnisse und Wünsche der SchülerInnen aktiv in die Gestaltung eben dieser Zukunft miteinbezogen werden?

Gemeinsam mit dem Jazz-Pianisten, DJ und Komponisten Matthias Vogt und dem Komponisten und Musikpädagogen Theodor Köhler entstand ein Workshopangebot, welches diesen Fragen nachging. An drei Wochen­enden entwickelten die Teilnehmenden ihre Vorstellung einer Zukunftsmusik. Dabei gingen verschiedenste Formen des Unterrichts und der Zusammenarbeit sowie eine große Bandbreite an Inhalten und Themen fließend ineinander über: Improvisation, Komposition, Ensemblespiel, Musikproduktion, digitale Möglichkeiten des Musikmachens und das Entwickeln einer Geschichte, in die all dies eingebettet wurde, standen gleichberechtigt nebeneinander.
Die Heterogenität der Gruppe war stets ein Motor und kein Hindernis für die kreativen Prozesse. Die jüngste Teilnehmerin war zehn Jahre alt, die älteste 20. Nur ein einziger Teilnehmer hatte bereits Erfahrungen im Komponieren. Das Instrumentarium war ein bunter Mix aus Gitarren, Klavier und Streichinstrumenten auf verschiedensten instrumentalen Niveaus.
Eine erste Gruppe erforschte unter Anleitung des Komponisten Theodor Köhler sowie der Klavierlehrerin Susanne Wassenich improvisatorisch musikalische Grundformen. Auf Basis spontaner melodischer Erfindungen der Teilnehmenden wurden in kürzester Zeit erste Stücke entwickelt und direkt mit den vorhandenen Instrumenten zu kammermusikalischen Werken arrangiert. Parallel dazu erforschte die andere Gruppe mit Hilfe von Matthias Vogt und Florian Beyer, welche Parameter Klänge ausmachen und wie diese zu Musik werden können. Vorhandene Alltagsgegenstände und verschiedenste Objekte wurden ganz frei und improvisatorisch zu Musikinstrumenten umfunktioniert. Zum Erstaunen aller Beteiligten entstand bereits am ersten Tag ein großer Teil der Musikstücke, welche später Teil der Aufführung werden sollten, die das Projekt abschloss.
Im zweiten Workshop wurde zunächst der Frage nachgegangen, warum Musik alt oder neu, klassisch oder modern klingt. Zu diesem Zweck wurden in einem Spiel verschiedene Hörbeispiele drei Kategorien zugeordnet: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nun sollten die TeilnehmerInnen erraten, aus welcher Zeit ein Musikstück stammt und aufgrund welcher Eigenschaft die entsprechende Zuordnung stattfand. Als Ergebnis gab es einen Katalog mit Eigenschaften, welche aus Sicht der Teilnehmenden eine Zukunftsmusik ausmachten und worin sie sich von der Musik der Vergangenheit oder Gegenwart unterscheidet. Anschließend wurden eben diese Eigenschaften auf die bereits entstandenen Stücke angewendet: Klänge wurden verfremdet, das Instrumentarium erweitert, Formen hinterfragt oder Raum für das aktive Ausbrechen aus eben diesen Formen gesucht.
Auf diese Weise traten typische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich zu Tage: So wurden unter anderem Instrumente präpariert oder neue Wege der Klangerzeugung auf den Instrumenten gesucht, Zufall wurde zum Kompositionsprinzip ernannt, Dissonanz und Konsonanz wurden neu bewertet und mehr hinsichtlich ihres emotionalen denn ihres formalen Gehalts betrachtet. Auf diesem Wege konnte den Teilnehmenden auch ein Stück Musikgeschichte näher gebracht werden, indem die Parallelen zu bereits vorhandener Musik gezogen wurden. Auch verschiedene Möglichkeiten der Notation wurden erforscht.
Eine wichtige Frage war zu diesem Zeitpunkt noch unbeantwortet: Wie kommt all das auf die Bühne? Zu diesem Zweck wurden die Klanggeschichten wieder aufgegriffen und überlegt, ob eine solche Geschichte vielleicht den Rahmen bilden könnte. Schnell wurde klar, dass die Geschichten, welche die jungen ZukunftsmusikerInnen erzählen möchten, sehr von den Themen der aktuellen Zeit geprägt sind: die Corona-Pandemie, der Klimawandel und die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Aus diesen Themen und auch Ängsten wurde schließlich die Idee eines Hörspiels in Form einer Radiosendung geboren. Und die verschiedenen Sendungen des Radioprogramms führten wiederum zu den weiteren Inhalten: ein Hit musste produziert, Jingles komponiert, Werbung, Nachrichten und Interviews erfunden und aufgenommen werden.
Die dem Projekt immanente Dynamik war nun nicht mehr zu stoppen. Die Ideen sprudelten förmlich aus allen heraus und die Rolle der DozentInnen bestand mehr und mehr darin, die vielen Ideen zu bündeln, zu strukturieren und miteinander in Kontext zu setzen. iPads wurden zu neuen Musikinstrumenten, welche schließlich mit einem düsteren und atmosphärischen Klangteppich die Einleitung für die Aufführung auf der Bühne des Stadttheaters bildeten und gleichzeitig die Lust auf Improvisation und die Neugier auf Ungewohntes steigerten. Matthias Vogt entführte die SchülerInnen in die Welt der elektronischen Musik und es entstand mit Aliens on the Road der Pop-Hit des Abends. Aus einem einfachen Stück mit simpler I-IV-V-I-Harmonik wurde durch freies Improvisieren und bewusstes Zerstören der Form ein dystopisches Bild der wegen des Klimawandels untergegangenen Stadt Amsterdam.
Werbung informierte über Gewinnspiele für Sauerstoffflaschen und Atemmasken, die Nachrichten informierten über die Situation in den überfüllten Erd-Evakuierungsstationen (KünstlerInnen zählen zur ersten Prioritätsgruppe!). Zum Abschluss sang der Chor hinter Masken eine brüchige, zwischen Drei-, Fünf- und Vier-Viertel-Takten wechselnde Melodie aus der Feder der jüngsten Teilnehmerin, nur zaghaft begleitet von Geige, Bratsche und Cello.

So entstand nach nur drei gemeinsamen Wochenenden die 30-minütige Aufführung des Live-Hörspiels mit dem Titel Radio Zukunft. Beinahe das gesamte Spektrum des Musikschulangebots verschmolz in einem Workshop zu einem spannenden und für alle Beteiligten unglaublich bereichernden großen Ganzen. Heterogenität und Ungewissheit waren die großen Stärken, nicht die Schwächen des Projekts. Die Limitierung durch die eigenen instrumentalen Fähigkeiten spielte keine Rolle. An nur fünf Tagen verwandelten sich junge MusikschülerInnen in wahrhafte MusikerInnen mit einer eigenen musikalischen Sprache: eine Erfahrung, die bei allen Beteiligten noch lange nachwirken wird.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2022.