Gieseking, Walter

Spiel um ein Kinderlied

für Klavier zu vier Händen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Johannes Oertel Verlag, Mainz 2021
erschienen in: üben & musizieren 5/2022 , Seite 63

Walter Gieseking war zweifelsohne einer der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Erstaunlich ist, dass er erst im Teenageralter seinen ersten geregelten Klavierunterricht erhielt. Dem Klavierpädagogen Karl Leimer, der ihn in Hannover am Städtischen Konservatorium unterrichtete, verdankte er nach eigener Aussage seine gesamte pianistische Ausbildung. Zusammen mit seinem Lehrer brachte Gieseking auch zwei vielbeachtete Lehrbücher heraus, ihre gemeinsam ausgearbeiteten pädagogischen Grundsätze bildeten das Fundament seiner späteren Arbeit als Professor am Staat­lichen Konservatorium in Saarbrücken.
Nach dem Ersten Weltkrieg festigte er nicht nur in Europa seinen Ruf als Klaviervirtuose, sondern auch in den USA, wo er große Erfolge feierte. Es wurde ihm nachgesagt, ein umfassendes Re­pertoire zu haben, darunter die großen Klavierkonzerte und Solowerke, die Gieseking angeblich jederzeit abrufen konnte. Auch seine Fähigkeiten beim Vom-Blatt-Spiel wurden allseits bewundert. Bereits in jungen Jahren spielte er an wenigen Abenden alle Beethoven-Sonaten. Neue Klavierkonzerte lernte er stets in wenigen Tagen, wenn die Zeit drängte sogar auf der Reise zum nächsten Konzertort.
Dass Walter Gieseking zudem als Komponist in Erscheinung getreten ist, mag auf den ersten Blick überraschend sein. Neben Werken für Klavier oder Kammer­musik komponierte er für seine Töchter Jutta und Freya einen Liederzyklus von 21 Kinderliedern nach Texten von Paula und Richard Dehmel. Sein Werk Spiel um ein Kinderlied für Klavier zu vier Händen lässt die Vertrautheit mit Paul Hindemith erkennen, Gieseking ist wie sein Zeitgenosse unverkennbar ein Komponist zwischen Tradition und Avantgarde.
Die Komposition entstand 1948, ein Jahr zuvor hatte er den Ruf auf die Professur in Saarbrücken erhalten. Als Thema wählte er die Melodie des französischen Lieds Ah, vous dirai-je, Maman, das auch anderen Liedern wie beispielsweise dem bekannten Weihnachtslied Morgen kommt der Weihnachtsmann zugrunde liegt. So ist es durchaus möglich, dass dieses Werk erstmals im Rahmen eines vorweihnachtlichen Konzerts von Studenten seiner Meisterklasse aufgeführt wurde.
Mozarts zwölf Variationen KV 265 dienten Gieseking sicherlich als Inspiration, sich ebenfalls mit der Variationsform kompositionstechnisch auseinanderzusetzen; daraus resultierend sucht er in seiner Komposition eine Erneuerung der Tradi­tion zu erreichen. Sein Werk mit einer Länge von nur sechs Minuten hat insgesamt sieben Sätze, die nahtlos ineinander übergehen. Gieseking hat das Thema in den einzelnen Sätzen auf fantasievolle Art und Weise verarbeitet, dabei werden die klanglichen Möglichkeiten des Instruments eindrucksvoll ausgeschöpft. Die kurzweiligen Variationen enthalten für beide SpielerInnen einige technische Schwierigkeiten, das Werk richtet sich somit an Fortgeschrittene.
Mano Eßwein