Dvorák, Antonín

Ballade op. 15/1 und Notturno op. 40

für Violine und Klavier, hg. von Wolfgang Birtel, Fingersätze und Striche von Ida Bieler

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2022
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 62

Voilà – eine Neuausgabe zweier kurzer Gelegenheitswerke Antonín Dvor˘áks für Violine und Klavier, der Ballade in d-Moll op. 15/1 und des Notturno in H-Dur op. 40. Aber was heißt bei einem Genius wie Dvor˘ák schon „Gelegenheitswerk“. Mir kommt, wann immer ich eines seiner kürzeren, sozusagen mit lockerer Hand aufs Papier geworfenen Stücke höre, Brahms’ Diktum in den Sinn: „Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.“ Wie wahr! Dieser völlig mühelose, schier überbordende Ideenreichtum lässt an Schubert und Mozart denken.
Die Ballade op. 15/1 schrieb Dvo­r˘ák im Herbst 1884, sie erschien im gleichen Jahr als Christmas Supplement (!) im Londoner Magazine of Music. Weihnachtsmusik, wie man sie sich gemeinhin vorstellt, ist sie allerdings nicht. Dreiteilig A-B-A in der formalen Anlage, erscheint sie eher als ein Stück „Ausdrucksmusik“ von recht düsterem Grundcharakter, mit schwermütigen Vorhalten in der unendlichen Melodielinie der Eckteile, dramatisch zugespitzt in der Mittelpartie. Die Ballade ist trotz der irreführenden frühen Opuszahl keineswegs Dvor˘áks erste Komposition für Violine und Klavier. Vorausgegangen waren zwei Violinsonaten – von denen leider nur diejenige in F-Dur op. 57 erhalten ist; das nie gedruckte Schwesterwerk in a-Moll aus dem Jahr 1873 ist verschollen –, das Cap­riccio – ein Konzert-Rondo in C-Dur und vermutlich eine Vorstudie für ein Violinkonzert –, die berühmte Romanze in f-Moll op. 11, Mazurek op. 49 sowie das genannte Notturno in H-Dur op. 40, dessen Wurzeln wohl bis ins Jahr 1870 zurückzudatieren sind.
Das informative Vorwort der Neuausgabe vermerkt hierzu: „Ursprünglich wurde es als langsamer Satz für das Streichquartett in e-Moll komponiert, dann für Streichquintett (mit Kontrabass) umgearbeitet, schließlich wieder aus diesem Werk herausgelöst und 1883 im Berliner Verlag Bote & Bock separat in 3 neuen Fassungen veröffentlicht: für Streichorchester, für Klavier vierhändig und für Violine und Klavier.“ Mag vielleicht in der Version für Streichorchester die verträumte Melodieseligkeit dieser Musik am schönsten erblühen, so ist das Notturno auch für Violine und Klavier von bezauberndem Charme. Wer eine Zugabe oder ein kurzes Stück zur Abrundung eines Violinabends sucht, dem seien beide Werke ans Herz gelegt.
Als Grundlage der vorliegenden Neu-Edition diente bei beiden Werken jeweils die Erstausgabe. Zu loben sind die detaillierten Anmerkungen, die jede Abweichung zur Vorlage auflisten. Die Violinstimme ist von Ida Bieler mit Bogenstrichen und Fingersätzen versehen, sehr professionell und äußerst penibel samt diverser Alternativlösungen. Gelegentlich hätte es, der Übersichtlichkeit halber, vielleicht auch eine Fingersatzziffer weniger getan. In Druck und Ausstattung entspricht die Ausgabe dem gewohnt hohen, luxuriösen Schott-Standard.
Herwig Zack