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Doerne, Andreas

Mathetische Exploration

Eine neue Sichtweise auf Didaktische Analyse

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2023 , Seite 06

Ein Musikstück als Dialogpartner zu betrachten, mit dem man – genau wie mit einem menschlichen Gegen­über – interaktiv in Beziehung treten kann, erscheint zunächst ungewöhnlich. Tatsächlich ist es jedoch frappierend, wie viele neue Horizonte diese Sicht- und Herangehensweise auf die Musik, das Musizieren im Allgemei­nen und letztlich auf mich selbst als Mensch und MusikerIn eröffnen kann. Eine Didaktische Analyse stellt dabei ein wichtiges Hilfsmittel dar, vorausgesetzt man versteht und praktiziert sie in einer neuen Form.

Möchte man ein Musikstück auf möglichst vielfältige, im Idealfall ganzheitlich-umfassende Art und Weise unterrichten, ist eine tiefgreifende Didaktische Analyse das Mittel der Wahl. Und sucht man nach einer Methode der Unterrichtsvorbereitung, die keinen einengenden Plan hervorbringt, sondern im Gegenteil die Lehrperson zu situativ vielfältigem, auch unvorhergesehenem Handeln inspiriert, wird man ebenso bei der Didaktischen Analyse fündig.
Hier stelle ich eine Sichtweise auf Didaktische Analyse vor, die ein zu interpretierendes Stück nicht bloß als analysierbares Objekt, sondern als einen durch quasi intersubjektiven Austausch zu ergründenden Dialogpartner versteht. Didaktische Analyse erscheint dann nicht als monologisches „Schauen auf ein Ding“ durch eine Fakten konstatierende, ihrer Subjektivität weitgehend entledigte Betrachterin, sondern als ein von vornherein offener, immer wieder veränderbarer, niemals abgeschlossener Prozess der Zwiesprache, in dessen Folge ein Stück sowohl seine real vorhandenen als auch seine potenziell denkbaren Lerninhalte, Lernanlässe und Umgangsweisen offenbart.
Das Ergebnis spiegelt dabei die individuelle Sichtweise eines Menschen auf ein Stück Musik wider. Entsprechend lässt sich ein solches Vorgehen treffender mit dem Begriff der Mathetischen Exploration1 bezeichnen, der den Fokus auf ein quasi dialogisches Ausloten nicht von Lehr-, sondern von Lernmöglichkeiten legt, bei dem sowohl die objektiven Fakten eines Stücks als auch die subjektive Perspektive der im Idealfall kreativ Lernenden gleichermaßen zur Geltung kommen.

Zum Begriff der Mathetischen Exploration

Der Begriff der Didaktischen Analyse bezieht sich mittels des Adjektivs „didaktisch“ auf Möglichkeiten des Lehrens und durch das Nomen „Analyse“ auf das Herausarbeiten objektiver Fakten. Mit wissenschaftlichem Blick arbeitet sie Inhalte des Stücks in Bezug auf verschiedene Lernfelder heraus und legt Wege der Vermittlung dieser Inhalte fest. Eine Didaktische Analyse wird allein von der Lehrperson zeitlich vor der Unterrichtsstunde durchgeführt, um die daraus gewonnenen Erkenntnisse während des Unterrichts an einer Schülerin anzuwenden.
Die Mathetische Exploration hingegen bezieht sich auf Möglichkeiten des Lernens (altgriechisch: mathe¯sis = das Lernen) und wird ebenso durch die Lehrperson entworfen, kann und sollte aber auch von SchülerInnen praktiziert werden. Idealerweise führen Lehrkraft und Schülerin sie gemeinsam während des Unterrichts durch, entdecken so in einem Stück verborgene Lernanlässe gemeinsam, entwerfen Lernwege in kollaborativer Zusammenarbeit und probieren sie umgehend aus. Nebenbei wird die Schülerin vertraut mit dem für musizierbezogene Lernprozesse so wichtigen Prinzip, ein Stück auf seine Lernmöglichkeiten und vieldimensionalen Umgangsweisen hin zu befragen, mit ihm musikalisch handelnd in einen Dialog zu treten.
Die universellen Leitfragen einer Mathetischen Exploration lauten: „Liebes Stück, was kann ich an dir und durch dich alles lernen? Was kann ich mit dir alles anstellen?“ Und umgekehrt: „Liebe Spielerin, was siehst du in mir? Welche künstlerisch-kreativen Impulse wecke ich in dir? Welche Lern- und Lehrimpulse löse ich bei dir aus?“
Es geht also darum, Lernthemen und Stu­dienobjekte aus einem Stück herauszuarbeiten, mit denen man als Lernende entweder kreativ-explorierend umgehen oder aber systematisch-trainierend arbeiten kann. Diese Lernthemen müssen nicht explizit in Erscheinung treten, sondern können auch als Potenzial implizit im Stück verborgen liegen. Vor allem bei Letzterem spielt die eigene Lernbiografie der Lernenden, ihre individuelle Persönlichkeit sowie ihre künstlerische und (auto-)didaktische Fantasie eine wesentliche Rolle. Dies bedeutet, dass Lernende jeweils unterschiedliche Lernthemen und Studienobjekte in einem Stück erkennen und das daraus resultierende Lernen ein jeweils anderes, eigenes sein wird. Eine Mathetische Exploration stellt somit eine offene Begegnung dar, eine gegenseitige Befragung von Gleichberechtigten (Stück und SpielerIn), die potenziell nie endet. Sie ist ein Eintauchen in die Möglichkeitswelt eines Stücks, die nicht nur vom Stück, sondern genauso auch von der individuellen Persönlichkeit der Spielerin oder des Spielers und von deren musikalischer Biografie hervorgebracht wird.
Die Frage „Liebes Stück, wer oder was bist du, wer oder was kannst du sein?“ ist im Kern eine Frage danach, wer man als KünstlerIn (und darüber hinaus als Mensch) selbst ist und sein will. Denn das In-Austausch-Gehen, der Dialog mit einem Stück ist selbstverständlich immer ein virtueller, mehr noch: ein Selbstgespräch der Musikerin oder des Musikers anhand eines Stücks. Und trotzdem braucht es, wie in jedem guten Gespräch, die Fähigkeit der Empathie, der Perspektivübernahme, des Hineinversetzens in ein Gegenüber. Diese im Idealfall produktive und kreative Konfrontation mit sich selbst im Medium eines Musikstücks darf nicht verwechselt werden mit narzistischer Selbstbespiegelung, einem egozentrischen Sich-selbst-zum-Mittelpunkt-der-Welt-Machen. Letzteres basiert im Kern auf psychologischer Abwehr, mentaler Abschottung sowie der Vermeidung von (Weiter-)Entwicklung. In ersterem Fall findet immer ein Wachstumsprozess statt, ein Erweitern des eigenen Horizonts, ein produktives Sich-selbst-und-die-Welt-in-Frage-Stellen, ein experimentelles Ausprobieren alternativer Sicht- und Handlungsweisen, kurz: eine Öffnung des Subjekts im Hinblick auf neue Lernerfahrungen. Es ist ein Entwicklungsprozess, der die gesamte Person erfasst.

1 Zum Begriff der Mathetik und seiner historischen Entstehung, die bis zum Begründer der modernen Pädagogik Johann Amos Comenius ins 17. Jahrhundert zurückreicht, vergleiche unter anderem: Chott, Peter O.: „Die Entwicklung des MATHETIK-Begriffs und seine Bedeutung für den Unterricht der (Grund)Schule“, in: PÄDForum, 1998, Heft 4, S. 390-396, https://schulpaed.de/ wp-content/uploads/2019/01/1998-a-mathetik-begriff.pdf (Stand: 21.8.2023); Winkel, Rainer: „Von der ­Didaktik zur Mathetik?“, in: Pädagogisches Forum 6, 1993, Heft 3, S. 146-151; Schratz, Michael/Wiesner, Chris­tian: „Didaktik geht vom Schüler aus – aber wie? Mathetik und lernseitige Orientierungen – Positionsbestimmungen“, in: Online Journal for Research and Education, Ausgabe 14, Oktober 2020, https://journal.ph-noe.ac.at/index.php/resource/article/view/960/905 (Stand: 21.8.2023).

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