Herbst, Sebastian

Speed-Learning oder Impuls?

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 5/2023 , Seite 41

Als meine Frau und ich neulich auf einer Hochzeit eingeladen waren, zeigte sie mir im Vorfeld eine Video-Anleitung für eine vermeintlich einfache und zugleich effektvolle Flechtfrisur – vermeintlich, da die Schritt-für-Schritt-Anleitung im Zusammenschnitt mit hoher Wiedergabegeschwindigkeit ohne Text und Kommentar zwar für Begeisterung und hinreichende Reproduktionsmotivation sorgte, jedoch auch dazu führte, dass wichtige Teilaspekte viel zu schnell vorangingen und wesentliche Informationen fehlten. Sie ahnen, dass das Frisieren zu meiner Aufgabe werden sollte. Letztlich hat es geklappt, aber wie sehr hat es mich geärgert, dass ich nach meiner überzeugten „Natürlich bekomme ich das hin“-Einschätzung einsehen musste, dass mir Informationen für wichtige Schritte fehlten oder zunächst entgangen waren und es doch nicht so leicht war, wie es zunächst aussah.
Es geht mir natürlich nicht darum, Ihnen von meinen mangelnden Flechtkünsten zu berichten. Ich beschreibe die Situation nur deshalb, weil sie meinen Fokus auf ein ähn­liches Phänomen gelenkt hat, das mir bei Videos zum Musizierenlernen zunehmend begegnet. Gemeint ist eine Art von Tutorials, die man als Speed-Tutorials bezeichnen könnte. Im Gegensatz zu längeren Tutorials begegnen mir auf Social Media immer häufiger Videos, in denen Musizier-InfluencerInnen einen musizierbezogenen Teilaspekt mit hoher Geschwindigkeit, vielen Cuts und inhaltlicher Dichte in Form eines Tutorials ansprechend aufbereitet präsentieren.
Dazu zwei Beispiele: Das erste Video bezieht sich auf Empfehlungen, wie ich die linke Hand bei der Chopin-Etüde op. 10 Nr. 12 üben kann. Nach einem Intro, in dem die Pianistin ihr Können anhand der ersten Takte des Stücks präsentiert, werden in den weiteren 25 Sekunden vier Übeschritte empfohlen, die jeweils kurz am Beispiel der ersten Takte demonstriert werden. Schritt 1: Kontrolle von Handgelenk- und Ellenbogenbewegungen im langsamen Tempo. Schritt 2: Beschleunigung mit verschiedenen Rhythmen. Schritt 3: Spiel im Staccato bei langsamem Tempo, um die Geschwindigkeit der Fingeraktionen zu erhöhen. Schritt 4: Beschleunigen bis zum Endtempo. In der Beschreibung folgt schließlich der Hinweis, dass die Pianistin ein detailliertes Video auf einer Videoplattform hochladen wird, sowie – typisch für Posts auf einer Social-Media-Plattform – die Frage, wie Follower die Etüde oder Etüden generell üben. Außerdem können Fragen in den Kommentaren gestellt werden, deren Beantwortung in weiteren Videos in Aussicht gestellt wird.
In einem anderen, einminütigen Video bekomme ich gezeigt, wie ich einen bekannten Popsong in fünf Schritten auf dem Klavier nachspielen kann. Zunächst muss ich die „Akkordfolge knacken“, die daraufhin angezeigt und durch den Musiker einmal zur Aufnahme mitgespielt wird. Der direkt anschließende zweite Schritt besteht darin, dass ich ein Begleitmuster wählen soll. Vorgeschlagen werden „volle Akkorde mit oktaviertem Bass“, was zugleich mit der linken Hand demonstriert wird. Nun soll ich die Melodie nachspielen, und zwar nach Gehör. Als Tipp: „Anfangston ist F, dann Sprung zum C“. Erneut wird demonstriert, bevor in Schritt 4 der Hinweis folgt, dass ich nun „Musik draus machen“ soll, zum Beispiel durch „Melodie oktavieren und mit Mittelton“ spielen. Im fünften Schritt erhalte ich den Hinweis, dass die Vorgehensweise bei anderen Stücken mit gleicher Akkordfolge ebenfalls umsetzbar sei – allerdings ohne Beispiel. In den letzten Sekunden folgt dann noch ein Zusatzhinweis: Ich müsse „noch einen schönen Schluss finden“, wozu mir ein Beispiel zeitgleich demonstriert wird.
Wird Social Media also zu einer Lernplattform? Man kann nur sehr schlecht gezielt nach spezifischen Tutorials suchen. Vielmehr werden die Videos zufällig bzw. in Anlehnung an Präferenzen der NutzerInnen präsentiert, die diese beispielsweise im Zug oder Wartezimmer konsumieren und eventuell an FreundInnen versenden oder für später speichern. Schnell gelangt man zwar zu dem Eindruck, man könnte es auch selbst versuchen und sicher umsetzen. Aber ebenso rasch zeigt sich, dass die inhaltliche Dichte der kurzen Videos zu hoch ist, Informationen fehlen und Demonstrationen zu schnell sind. Hinzukommt, dass das Pausieren und Springen im Video auf Social Media meist ungemütlich ist.
Ebenso wie das Flechtvideo oder zahlreiche Videos zur Zubereitung von Speisen und besonderen Drinks führen also auch musizierbezogene Kurz-Tutorials vermutlich eher nicht zum Speed-Learning. Sie können jedoch – eingebettet im kommunikativen Austausch der Social-Media-Community – für Dinge begeistern und Impulse zum Ausprobieren sowie Motive für einen längeren Lernprozess geben. Welchen InfluencerInnen Ihre SchülerInnen wohl folgen?

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2023.