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Rietschel, Thomas

Neue Hochschulkultur

Situation und künftige Aufgaben der deutschen Musikhochschulen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Seite 08

Die deutschen Musikhochschulen sind in der künstlerischen Ausbildung sehr erfolgreich. Auch in ihrem Selbst­verständnis sind sie auf diesen Bereich fixiert, haben jedoch wichtige Aufgaben wie die Ausbildung von Fachkräften für die musikalische Bildung vernachlässigt. Wollen sie zukünftig das Musikleben mitgestalten, müssen sie sich dem gesellschaftlichen Wandel und damit Themen wie Digitalisierung, Migration oder Klimawandel öffnen und als Weg­bereiterinnen des Neuen aktiv an der Weiterentwicklung des Musiklebens mitwirken. Solche Veränderungen setzen eine intensive Auseinander­setzung mit dem eigenen Selbst­verständnis voraus.

23.000 Studierende waren 2022 an deutschen Musikhochschulen eingeschrieben.1 Unterrichtet werden sie durch 7750 Beschäftigte aus dem wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich.2 Das sind mehr als 30000 Menschen, die ihr Leben der Musik verschrieben haben! Damit sind die 24 deutschen Musikhochschulen einzigartige Kompetenzzent­ren in Sachen Musik. Nirgendwo sonst in unserer Gesellschaft gibt es andere Institutionen, an denen so viel künstlerische Erfahrung, Wissen und Fachkompetenz im Bereich Musik versammelt ist.
Kernaufgabe der Musikhochschulen ist die künstlerische, pädagogische und wissenschaftliche Ausbildung im gesamten Spekt­rum der Musikberufe. Alle, die auf und hinter der Bühne tätig sind, sowie alle, die dafür gesorgt haben, dass vor der Bühne auch jemand sitzt, sind in unserer Gesellschaft in den Musikhochschulen ausgebildet worden. Wenn man die Musikhochschulen von außen als Teil unseres Musiklebens betrachtet, dann sieht man, dass sie an einer entscheidenden Schnittstelle sitzen. Sie bilden die Menschen aus, die in 20 oder 30 Jahren dieses Musik­leben prägen werden. Daraus erwächst ihnen eine große Verantwortung für die Zukunft unseres Musiklebens.
Vor allem in der künstlerischen Ausbildung erfüllen die Musikhochschule ihre Aufgaben hervorragend. Jährlich bewerben sich in künst­lerischen Studiengängen wesentlich mehr Studierende auf einen Studienplatz, als angenommen werden können. Auch im internationalen Wettbewerb erweist sich die künstlerische Ausbildung in Deutschland als äußerst attraktiv, in den Studiengängen der Ins­trumentalausbildung kommen 62 Prozent der Studierenden aus dem Ausland.3 Die Zufriedenheit der Studierenden mit dem Studium an den Musikhochschulen ist wesentlich höher als die Zufriedenheit von Absolventen an Universitäten oder Fachhochschulen, wie Studien ergeben haben. Eine Absolventenstudie aus Baden-Württemberg von 2015/16 zeigt, dass 86 Prozent der AbsolventInnen zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrem Studium waren und 88 Prozent wieder an einer Musikhochschule studieren würden.4
Etwas an diesen Zahlen berührt mich besonders, wenn man berücksichtigt, dass 72 Prozent der MusikhochschulabsolventInnen jährlich weniger als 30.000 Euro verdienen.5 Anscheinend ist die Begeisterung für Musik den AbsolventInnen wichtiger als eine finanziell gut abgesicherte Existenz. Das ist ein Skandal, denn selbstverständlich haben KünstlerInnen Anspruch auf eine faire Bezahlung ihrer Arbeit. Aber es wird auch sichtbar, was für kostbare Institutionen Musikhochschulen sind: altmodisch anmutend und ganz unzeitgemäß idealistisch. Anscheinend gelingt es ihnen, ihren Studierenden etwas zu vermitteln, was in unserer komplett durchökonomisierten Welt selten geworden ist, nämlich dass es Dinge gibt wie die Musik, die sich der Verwertbarkeit entziehen und dass es sich lohnt, all seine Energie und Kraft einer Sache zu widmen, die größer ist als man selbst. Auch darauf können die deutschen Musikhochschulen stolz sein.
Doch die Welt dreht sich immer schneller und selbstverständlich betrifft das auch das Musikleben. In Folge dieser Entwicklungen sehen sich die Hochschulen einem immer komplexeren Geflecht von Erwartungen und Anforderungen von außen gegenüber, berechtigten und unberechtigten: Politiker wollen den Laienmusikbereich fördern, die Orchestergewerkschaft fordert mehr Spezialisierung, die pädagogischen Verbände mehr Fachkräfte – die Reihe lässt sich fortsetzen. Darauf müssen die Musikhochschulen reagieren, denn sie dürfen keine Elfenbeintürme sein. Wenn man ernst nimmt, dass sie Verantwortung tragen für die Zukunft des Musiklebens, dann müssen sie ihre Studierenden auf diese neue Welt vorbereiten, sich also diesem Wandel stellen. Und der verlangt neue Antworten, ein Weiter-so-wie-bisher ist nicht genug. Die Musikhochschulen sollten also im wahrsten Wortsinn Avantgarde sein, Vorreiterinnen, die die Zukunft erkunden, weil diese die Gegenwart ihrer Studierenden sein wird.

1 siehe Deutsches Musikinformationszentrum: Statistik Studierende an Hochschulen für Musik und Theater, https://miz.org/de/statistiken/studierende-an-hochschulen-fuer-musik-und-theater (Stand: 6.8.2023).
2 siehe Deutsches Musikinformationszentrum: Statistik Wissenschaftliches und künstlerisches Personal in Studiengängen für Musikberufe – nach Geschlecht und Personalgruppe, https://miz.org/de/statistiken/wissenschaftliches-und-kuenstlerisches-personal-in-studiengaengen-fuer-musikberufe-nach-geschlecht-und-personalgruppe (Stand: 6.8.2023).
3 siehe Deutsches Musikinformationszentrum: Statistik Studierende in Studiengängen für Musikberufe – nach Geschlecht und ausländischer Staatsbürgerschaft, https://miz.org/de/statistiken/studierende-in-studiengaengen-fuer-musikberufe-nach-geschlecht-und-auslaendischer-staatsbuergerschaft (Stand: 6.8.2023).
4 siehe Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Ergebnisse der Absolventenbefragung 2015 und 2016 an den Musikhochschulen in Baden-Württemberg, S. 33 f., S. 40 f., https://www.statistik-bw.de/Service/ Veroeff/Querschnittsver!F6ffentlichungen/806118004.pdf (Stand: 6.8.2023).
5 siehe ebd., S. 28 f., https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Querschnittsver!F6ffentlichungen/806118004.pdf (Stand: 6.8.2023).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2023.