KI-erzeugtes Bild

Stibi, Sonja

Den Wind nutzen

Musikhochschulen zwischen Tradition und Neuorientierung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Seite 12

Musikhochschulen sind nicht nur Orte der Exzellenz, sondern auch der Trans­formation. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen erfordern eine Neu­ausrichtung und stellen bisherige Praxen und Haltungen auf den Prüfstand. Ein erweitertes Verständ­nis von Exzellenz ist gefragt. Dabei gewinnt die Third Mission als Auf­gabe neben Lehre und Forschung an Bedeutung.

Leuchttürme der Exzellenz – dieses Bild von Musikhochschulen prägt von jeher die künstlerische Ausbildung. Wettbewerbserfolge und große Engagements bilden das Feuer, das den Turm zum Leuchten bringt. Ja, Leucht­türme erheben sich über die Fläche, strahlen hell, sind weithin sichtbar, imposant und schön anzuschauen. Doch sie stehen auch an exponierter Stelle und sehen sich somit vielerlei Winden und Strömungen ausgesetzt, die das Bauwerk auf den Prüfstein stellen. So hält das gegenwärtige Zeitgeschehen und Musikleben zahlreiche Herausforderungen bereit, denen sich Musikhochschulen stellen müssen: Teilhabe, Diversität, Transkulturalität, Digitalität, Transfer – diese fünf Schlagworte, um nur einige zu nennen, lassen anklingen, welch umfassender Transformationsprozess bereits begonnen hat.1 Die im Folgenden skizzierten Entwicklungen sollen deutlich machen, weshalb ein erweitertes Verständnis von Exzellenz in der Hochschulausbildung notwendig ist.

Teilhabe

Kulturnutzerstudien und BesucherInnen
Auf ein verlässliches Stammpublikum kann der Konzertbetrieb immer weniger zählen. Nur fünf bis 15 Prozent der Bevölkerung in Europa besuchen regelmäßig klassische Konzerte.2 Über die Hälfte der Bevölkerung nutzt überhaupt keine klassischen Kulturangebote.3 Laut aktuellem Relevanzmonitor des Liz Mohn Centers4 waren 37 Prozent der Befragten noch nie in einem klassischen Konzert, einer Oper, Ballett- oder Tanzaufführung. Etwa 33 Prozent meinen, dass sich solche Angebote nicht an Menschen wie sie richten, oder fühlen sich fehl am Platz (26 %).5
Durchschnittliche KonzertbesucherInnen sind weiß, 55 plus, wohlhabend und gebildet.6 Die ungleiche Verteilung führt das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung nicht auf einen Alters-, sondern auf einen Generationen­effekt und die entsprechende musikalische Sozialisa­tion zurück.7 Im Spannungsfeld dazu steht der von der UNESCO 20068 gut begründete Leitbegriff der Kulturellen Teilhabe, welcher mehrere Dimensionen umfasst wie Rezeption, Interaktion, Interpretation, Kuration und Kreation.9 Vor diesem Hintergrund stellen sich für die Entwicklung von Musikhochschulen unter anderem folgende Fragen:
Wie können wir als Musikhochschule in die Gesellschaft wirken? Welche Dimensionen von Teilhabe sind in unseren Veranstaltungsformaten vertreten? Wie bereiten wir unsere Studierenden darauf vor, neue Aufführungspraxen zu erforschen und neue (Konzert-)Formate für und mit bestimmten Dialoggruppen zu entwickeln?

Diversität und Inklusion

Relevanz für eine plurale Gesellschaft
Eine sich durch Globalisierung und Migration wandelnde Gesellschaft sorgt für eine hohe Diversität. Dies zeigt sich nicht nur in der Herkunft der Menschen aus verschiedenen Ländern, sondern vor allem in einer Pluralität der Lebensstile und kulturellen Praxen, was der Anthropologe Steven Vertovec als „Super-diversity“ bezeichnet.10 Im Kulturpublikum spiegelt sich diese Vielfalt jedoch kaum wider, denn der Bereich der sogenannten Hochkultur und klassischen Musik ist nur einer von vielen und wird oftmals als elitär ohne Bezug zur eigenen Lebenswelt wahrgenommen. Martin Tröndle verweist in seiner Nichtbesucherstudie auf die Relevanz von Nähe: „Je näher die Kunst an der eigenen, erfahrenen Lebenswirklichkeit ist, desto wahrscheinlicher ist auch der Besuch.“11 Nähe stellt sich dann ein, wenn eine inhaltliche, lebensweltliche und emotionale Beziehung zu etwas oder jemand aufgebaut wurde.
Wie gehen wir an Hochschulen mit der geringen Vielfalt im Kulturpublikum um? Welche Begegnungsräume zwischen Menschen und Musiken, verschiedenen kulturellen Praxen und dem Alltag von Menschen gestalten wir als Hochschule? Welche Lern- und Erfahrungsräume für Musik als soziale Praxis schaffen wir für unsere Studierenden?
Den Blick zu weiten und sich auch als Hochschule für verschiedene Publika und Communities, deren Interessen, Lebenswelten und kulturelle Praxen zu interessieren und dabei künstlerische Hierarchien zu hinterfragen, kann ein Schritt sein hin zu neuen Kollaborationen auf Augenhöhe, um Beziehung und Nähe zu gestalten.

Transkulturalität

Wissen, künstlerische Praxen und Zugänge
Diversität in der Gesellschaft geht unmittelbar mit Transkulturalität12 einher. Anstelle der traditionellen Auffassung von in sich abgegrenzten, homogenen Kulturen ist ein Kulturverständnis getreten, welches durch Kulturtransfer, also Austausch und Verflechtung kultureller Elemente charakterisiert ist, die sowohl auf der Makro­ebene von Gesellschaften als auch auf der Mikroebene des einzelnen Individuums besteht.
So vielschichtig wie die Gesellschaft sind musikkulturelle Praxen. Auch Musikhochschulen sind nicht zuletzt durch ihre internationale Studierendenschaft als transkulturelle Räume zu sehen.13 Im Zentrum der Ausbildung steht allerdings die westliche Kunstmusik sowie Instrumental- und Gesangspraxis des Globalen Nordens,14 oft fokussiert auf die Zeitspanne von 1850 bis 1920 mit begrenzter Vielfalt hinsichtlich des musikalischen Repertoires.15
Diese Diskrepanz wirft fundamentale Fragen auf, um den Ausbildungsfokus und den musikalischen Kanon dessen, was bislang gelehrt und gelernt wurde, einer kritischen Reflexion zu unterziehen:
Welches Wissen soll an Musikhochschulen gelernt und gelehrt werden? Welche Instrumente können studiert werden? Welche Musiken, musikalischen Praxen, Traditionen, Stile und Werke finden Eingang in Curricula und Bühnenprogramme? Wessen Musik, Theaterstücke oder Choreografien werden aus welcher Perspektive hör- und sichtbar? Welche musikalische Vielfalt ist vertreten? Welcher Kulturbegriff liegt dabei unserem Lehren, Lernen und Forschen zugrunde? Welche gewollten und ungewollten Ausschlüsse finden an unseren Hochschulen statt? Und wer erhält überhaupt Zugang zum System Hochschule?
Als Lehrende sind wir gefordert, solche Fragen (mit Studierenden) zu diskutieren, unsere Praxis aus der Perspektive der Diversifizierung, Dekolonialisierung16 und Diskriminierung zu befragen, durch Einbeziehung auch ,nicht-westlicher‘ Positionen neu auszutarieren und ergänzend zu tradierten ebenso transkulturelle Lern- und Erfahrungsräume zu schaffen. Dies bedeutet, sich einerseits dem unbekannten Reichtum im vertrauten Repertoire17 und andererseits anderen Musiken und Musikpraxen zu öffnen, ohne in den Zwang zu geraten, „alles Musikalische der Welt“18 abbilden zu wollen.

1 Das Netzwerk Junge Ohren nennt Community, Teil­habe, Transformation, Transkulturalität und Digitalität als Schnittfelder: Netzwerk Junge Ohren (Hg.): Best of Magazin #10: Exzellenz, 2023, S. 24-25, www.jungeohren.de/best-of (Stand: 4.7.2023).
2 Tröndle, Martin (Hg.): Nicht-Besucherforschung. Audience Development für Kultureinrichtungen, Wiesbaden 2019; Mandel, Birgit: „Au­dience Development, Kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung, Community Building. Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selek­tivität des öffentlich geförderten Kulturangebots“, in: Kulturelle Bildung Online, 2017, https://doi.org/10.25529/92552.325 (Stand: 4.7.2023).
3 Renz, Thomas: Nichtbesucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld 2016, S. 66.
4 Liz Mohn Center der Bertelsmann Stiftung (Hg.): Relevanzmonitor Kultur. Stellenwert von Kulturangeboten in Deutschland 2023, Gütersloh, www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Presse/Umfrageergebnisse_Relevanzmonitor-Kultur_20230531.pdf (Stand: 4.7.2023).
5 ebd., S. 23
6 Haller, Michael: „,Typisch Klassik!‘ concerti Klassikstudie 2016. Eine Repräsentativbefragung über Interessen, Gewohnheiten und Lebensstile der Klassikhörer in Deutschland“, durchgeführt von der Ham-burg Media School in Kooperation mit concerti, Hamburg, S. 6, https://miz.org/sites/default/files/documents/2016_ concerti_Klassikstudie_2016.pdf (Stand: 3.7.2023).
7 Das Interesse an Kulturangeboten entwickelt sich also nicht „automatisch“ mit zunehmendem Alter, sondern ist von der individuellen musikalischen Sozialisation abhängig. Renz, Thomas/Allmanritter, ­Vera: kurz & knapp-Bericht Nr. 3: „Die Pandemie als Brandbeschleuniger“. Strukturelle Veränderungen im Kulturpublikum zwischen 2019 und 2022, hg. vom Institut für Kulturelle Teilhabeforschung, Berlin 2022, S. 10, www.iktf.berlin/publications/kurzknapp-pandemie (Stand: 12.10.2023).
8 UNESCO-UIS: Guidelines for Measuring Cultural Participation, Paper submitted by Adolfo Morrone. Montreal 2006, http://uis.unesco.org/sites/default/files/documents/guidelines-for-measuring-cultural-participation-2006-en.pdf (Stand: 4.7.2023).
9 Brown, Alan S./Novak-Leonard, Jennifer L.: Getting In On the Act. How arts groups are creating opportunities for active participation, 2011, S. 5, www.irvine.org/wp-content/uploads/GettingInOntheAct 2014_DEC3.pdf (Stand: 4.7.2023).
10 Vertovec, Steven: „Super-diversity and its implications“, in: Ethnic and Racial Studies, Vol. 30, No. 6, 2007, S. 1024-1054.
11 Tröndle, S. 112.
12 Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“, in: Schneider, Irmela/Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 67-90.
13 Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Claudia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld 2010.
14 Die Begriffe „Globaler Süden“ und „Globaler Norden“ haben sich als Bezeichnung in der Entwicklungspolitik und in den Sozial- und Geisteswissenschaften etabliert, um ungleiche Verhältnisse hervorzuheben. Länder des Globalen Nordens befinden sich in Bezug auf Lebensstandard, Wirtschaft und politische Freiheit in einer privilegierten Position. www.bmz.de/de/service/lexikon/globaler-sueden-norden-147314 (Stand: 21.7.2023).
15 vgl. dazu das Themenheft „Repertoire“, üben & musizieren, 2, 2023, www.uebenundmusizieren.de/ausgabe/repertoire (Stand: 21.7.2023).
16 siehe hierzu die Debatte zur Frage, ob und inwiefern klassische Musik kolonialistisch ist: Bhagwati, Sandeep: „Dekolonisiert euch!“, in: KiWit Archiv 2020, www.kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_16128.html (Stand: 3.7.2023); Reucher, Gaby: „Ist klassische Musik kolonialistisch?“, in: Deutsche Welle 2021, www.dw.com/de/kolonialismus-musik-klassik/a-57381921 (Stand: 4.7.2023).
17 Diese Datenbanken unterstützen bei der Erweiterung des musikalischen Repertoires: www.composerdiversity.com und www.archiv-frau-musik.de/weitere-datenbanken (Stand: 4.7.2023).
18 De Oliveira Pinto, Tiago: „Fetischisierung oder Entzauberung? Vom Umgang mit dem musikalischen Kanon“, in: neue musikzeitung, 6, 2022, S. 1-3, hier: S. 3.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2023.