Boulanger, Lili

Complete Violin Works

for Violin and Piano, hg. von Elisabeth Weinzierl und Edmund Wächter

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2023
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Seite 63

Die Liste der Namen ist lang, der Verlust unermesslich. Was haben etwa der Dichter Georg Büchner, der Geiger Josef Hassid, die Komponisten Guillaume Lekeu und Rudi Stephan, um nur einige exemplarisch zu nennen, gemeinsam? Alle waren sie geniale Begabungen, denen eine Reifung nicht vergönnt war, weil sie viel zu früh, in ihren Zwanzigern, verstarben.
15. März 1918: Die französische Komponistin Lili Boulanger stirbt im Alter von nur 24 Jahren in Mézy-sur-Seine, mutmaßlich an den Folgen von Morbus Crohn, einer Krankheit, an der sie von klein auf litt. Ein Schock für die französische Musikwelt, bedeutet es doch den Verlust einer ihrer größten kompositorischen Begabungen.
Lili Boulanger wurde 1893 in Paris geboren. Beide Eltern waren Musiker, der Vater ein hervorragender Komponist, der 1835 mit dem begehrten Prix de Rome ausgezeichnet wurde, ihre russische Mutter Sängerin. Lilis ältere Schwester Nadia sollte als Komponistin, Dirigentin und gesuchte Lehrerin sieben Jahrzehnte lang eine herausragende Stellung im französischen Musikleben einnehmen.
Lili begann mit drei Jahren mit dem Klavierspiel und begleitete mit fünf Nadia zu deren Kompositionsunterricht. Im 9. Lebensjahr begann sie selbst zu komponieren und nahm Unterricht bei Paul Vidal, um wenig später in die Kompositionsklasse von Gabriel Fauré aufgenommen zu werden, wo sie Florent Schmitt, Charles Koechlin, Maurice Ravel, Georges Enesco, Alfredo Casella und andere bedeutende Persönlichkeiten der Musikszene kennenlernte. 1913 erhält sie für ihre Kantate Faust et Hélène selbst den Prix de Rome – als erste Frau überhaupt und gegen hochkarätige männliche Konkurrenz, eine Sensation! Im gleichen Jahr mehren sich die gesundheitlichen Probleme. Den Studienaufenthalt in Rom muss sie abbrechen. In der Überzeugung, ihre Tage seien gezählt, beginnt sie fieberhaft zu komponieren. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs tut sein Übriges, um ihr Leben zu verändern. Lili Boulanger betätigt sich karitativ, korrespondiert mit musikalischen Soldaten, korrigiert deren Werke. Daneben überarbeitet sie für eine Drucklegung eigene ältere Kompositionen.
Nach ihrem Tod 1918 fallen trotz des unermüdlichen Einsatzes von Nadia ihre Werke der Vergessenheit anheim. Dies ändert sich erst in den 1960er Jahren, als man ihr Werk neu entdeckt. Jetzt liegen in einer Neuausgabe vier kurze Stücke, darunter eine Erstveröffentlichung, für Violine (oder Flöte) und Klavier vor, leider alles, was sie für diese Besetzung schrieb. Es sind Miniaturen aus Meisterhand, originell in der Erfindung, sinnlich und zauberhaft in der Harmonie- und Klanggestaltung. Vieles erinnert an Debussy oder Ravel – und hat doch eine persönliche Note. Mir geht es dabei ähnlich wie mit Lekeus Kompositionen: Was wäre hier alles noch gekommen, wäre das Schicksal gnädiger gewesen?
Herwig Zack