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Hartmann, Thomas

Verwandtschaft wider Willen

Über das Verhältnis von Volksmusik zu Kindermusik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 10

Als Lobbyist für das qualitätsbewusste und werteorientierte Kinderlied begegnet mir der Vergleich zwischen Volksmusik und Kindermusik immer wieder. Die gezielte Suche nach Gemeinsamkeiten führte mich zu überraschenden Erkenntnissen.

Einleitend ein Geständnis: Als ich gefragt wurde, ob ich diesen Fachartikel verfassen möchte, war ich im ersten Moment vor allem eines – irritiert. Warum sollte ausgerechnet ich das Verhältnis zwischen Kindermusik und Volksmusik näher ergründen? Mit Musikangeboten für Kinder kenne ich mich tatsächlich gut aus. Zugleich fußt mein Engagement für gute Kindermusik aber eben auch auf der Überzeugung, dass diese in der Regel völlig unterschätzte Gattung unter anderem durch genau solche Vergleiche schwer in Misskredit geraten ist.
Noch immer verbinden viele Menschen mit dem Begriff „Kindermusik“ vor allem das traditionelle Kinderlied – und gerade ihm haften Zuschreibungen wie Folklore und Brauchtum ziemlich hartnäckig an. Eines meiner Hauptanliegen ist es deshalb, Kindermusik von diesem längst überholten Image zu entkoppeln und sie als moderne, ernstzunehmende künstlerische Ausdrucksform zu würdigen. Vor diesem Hintergrund kann ein Vergleich zwischen Kindermusik und Volksmusik nur in die Irre führen! Dachte ich…
Meiner Irritation folgten jedoch wachsende Neugier und mit ihr einige kritische Fragen, die meinen Standpunkt ins Wanken brachten. Steht das traditionelle Kinderlied tatsächlich im grundlegenden Widerspruch zu moderner Kindermusik? Welche Argumente rechtfertigen überhaupt den schlechten Ruf von Volksmusik? Und liegt nicht bereits in der missbilligenden Haltung gegenüber musikalischer Folklore eine erste Gemeinsamkeit zum oft negativen Image von Kindermusik?

Entstehung und Funktion

Den historischen Ursprung von Volksmusik exakt zu erfassen, gestaltet sich schwierig. Zumindest die Entstehung des Begriffs „Volkslied“ lässt sich aber ziemlich genau datieren. Es war der Dichter, Theologe und Philosoph Johann Gottfried Herder, der ihn um 1773 in die deutsche Sprache einführte. Dieses Datum verweist auf eine lange Entwicklungsgeschichte von Volksmusik.
Doch hätten Sie gedacht, dass es zu dieser Zeit auch schon Kindermusik gab? Als Achim von Arnim und Clemens Brentano zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Des Knaben Wunderhorn die erste bedeutsame Sammlung von Volksliedtexten veröffentlichten, waren darin bereits etliche Kinderlieder zu finden, von denen einige, wie etwa Schlaf, Kindlein, schlaf oder Es tanzt der Bi Ba Butzemann, bis heute bekannt sind. Als der erste bedeutsame Kinderliedermacher dieser Zeit gilt Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), aus dessen Feder weit über 500 Kinderlieder stammen wie etwa Alle Vögel sind schon da, Der Kuckuck und der Esel oder Ein Männlein steht im Walde. Die Entstehungsgeschichte von Volksmusik und Kindermusik deutet also auf gemeinsame Wurzeln hin.
Diese Vermutung erhärtet sich, wenn wir uns die Funktionen von Volksliedern und Kinderliedern vor Augen führen. Volksmusik ist ihrem Wesen nach eng mit der Kultur und der Geschichte einer Region verbunden. Sie überliefert historische Ereignisse, greift vertraute Alltäglichkeiten auf, beinhaltet bisweilen moralisierende Botschaften und festigt im Zusammenwirken dieser inhaltlichen Merkmale letztlich ein tradiertes Wertesystem. Volksmusik, so ließe sich bündig sagen, trägt also zur Vermittlung kultureller Identität bei. Eine ähnliche Funktion erfüllten (und erfüllen) auch traditionelle Kinderlieder. Sie verleihen Festen und Feiertagen symbolische Bedeutung, illustrieren den Wandel der Jahreszeiten oder festigen in ihren Erzählungen soziale Rollenbilder. Unstrittig dürfte darüber hinaus auch die Funktion von Spiel-, Lern-, Bewegungs- oder Schlafliedern sein. Solche Sub-Genres der Kindermusik definieren sich kaum durch musikalische Kriterien, dafür umso mehr durch gesellschaftliche und pädagogische Intentionen.
Natürlich haben sich Volksmusik und Kindermusik in mehr als 200 Jahren merklich weiterentwickelt und sich dabei auch von derlei funktionalen Zuschreibungen emanzipieren können. Erhalten geblieben ist beiden musikalischen Strömungen jedoch ihr bevorzugt kollektiver Gebrauch. Ihre unmittelbarste Wirkung entfalten Volkslieder und Kinderlieder noch immer im gemeinsamen Vortrag, sei es im Rahmen von Volksfesten oder eben in der Kita bzw. im Kindergarten. Ganz nebenbei baut das gemeinsame Singen und Musizieren auch Berührungsängste zur Musik ab und beinhaltet damit hochgradig aktivierende Potenziale. Diese niedrigschwellige Praxis ist das vielleicht markanteste Merkmal, das historisch Volksmusik und Kindermusik verbindet. Sie ist aber bei Weitem nicht das einzige Indiz, das ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Liedformen begründet.

Zwei musikalische Genres?

Im fachlichen Austausch über Kindermusik werde ich manchmal belächelt, wenn ich hartnäckig darauf bestehe, dass der Begriff „Kindermusik“ kein musikalisches Genre, sondern eine musikalische Gattung beschreibt. Diese Differenzierung mag zunächst kleinkariert erscheinen. Sie ist jedoch alles andere als trivial, denn erst sie weitet den Horizont für stilistische Vielfalt und damit für neue Erscheinungsformen von Kindermusik. Wird von musikalischen Genres gesprochen, dann sind damit klar definierte musikalische Stilrichtungen gemeint. Jede dieser Stilrichtungen unterliegt spezifischen kompositorischen Merkmalen und kulturellen Codes, die sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. Wäre Kindermusik eines dieser Genres, dann wäre es um ihre stilistische Vielfalt im Umkehrschluss schlecht bestellt. Tatsächlich bildet sich im Kinderlied aber längst ein breites stilistisches Spektrum ab. Egal ob Pop, Rock, Punk, Jazz, Global-Pop, Techno, Hip-Hop oder Metal: All diese Musikrichtungen haben in zeitgenössische Kindermusik Eingang gefunden. Die Genre-Bezeichnung ist demzufolge eingrenzend und letztlich irreführend.
Der Begriff „Gattung“ ordnet künstlerische Werke dagegen in inhaltlich oder formal bestimmbare Gruppen. Das für Kindermusik relevante Alleinstellungsmerkmal wäre in diesem Kontext die ins Visier genommene Zielgruppe. Aus dieser Zuordnung lassen sich zwar klare inhaltliche Kriterien ableiten (zum Beispiel hinsichtlich der gewählten Themen, des Textes oder der Ansprache), jedoch nicht zwangsläufig musikalische Kriterien.
Ganz ähnlich verhält es sich in der Volksmusik – vor allem, wenn wir sie im globalen Kontext betrachten. In unseren Breitengraden wird sie oft auf bayerische Folklore eingegrenzt. Als Sammelbegriff für eine musikalische Gattung, die aus dem Volk heraus entsteht, ist Volks­musik aber auch bei uns von sehr unterschiedlichen (musik-)kulturellen Einflüssen geprägt. Folglich haben wir es auch in dieser Gattung mit einer stilistischen Vielfalt zu tun, die mit dem Genre-Begriff nicht angemessen erfasst ist. Der Diskurs über die Genre-Zuschreibung ist also keinesfalls marginal. Er verdeutlicht vielmehr, dass Kindermusik und Volksmusik in ähnlicher Weise mit der Herausforderung konfrontiert sind, sich von vorschnellen stereotypen Zuschreibungen abgrenzen zu müssen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2024.