Herbst, Sebastian

Wirklich schockiert?

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 37

Unmittelbar nach der Veröffentlichung der aktuellen PISA-Ergebnisse ballten sich die Schlagzeilen: „Deutsche Schüler stürzen ab“ (WDR), „Deutschland erlebt neuen PISA-Schock“ (Frankfurter Rundschau) oder „PISA-Schock 2.0“ (FAZ). Warum? Der seit ca. zehn Jahren zu beobachtende Abwärtstrend der Durchschnittsergebnisse in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften wird erneut bestätigt. Noch einmal schlechter als 2018 werden nun die niedrigsten Werte erreicht, die für Deutschland im Rahmen von PISA gemessen wurden. Damit gehört Deutschland nicht zu den führenden Nationen innerhalb der PISA-Studie.
Aber können wir wirklich von einem „neuen PISA-Schock“, einem „Pisa-Schock 2.0“ sprechen? Seit Jahren diskutieren wir über Fachkräftemangel, die Ausstattung an Schulen, die Größe der Klassen, Fragen der Digitalisierung sowie die Relevanz offener Lernkonzepte. Gerne blicken wir staunend auf reizvolle Ideen aus anderen Ländern. Veränderungen bei uns sind hingegen nur zögerlich spürbar. Hinzu kommen gesamtgesellschaftliche Veränderungen im Land (nicht nur durch aktuelle Krisen), auf die im Verhältnis zu deren Auswirkungen unzulänglich reagiert wird. Machen wir uns dann nicht etwas vor, wenn wir jetzt schockiert tun? Konnten wir die Ergebnisse nicht vielmehr vorhersehen? Müssten die Schlagzeilen nicht eher „Bestätigung der PISA-Erwartungen“ lauten?
Hier ist nicht der Platz, um die Ergebnisse und ihre relevanten Einflussgrößen im Detail darzustellen, auch wenn die Beschäftigung mit allen Studienergebnissen für eine emotional weniger aufgeladene Diskussion zwingend zu empfehlen ist. Erfreulicherweise aber nimmt die Diskussion über die Leistungspunkte hinaus nach der ersten Schockstarre auch medial etwas zu. Ausgewählte Teilergebnisse, die mich wirklich schockieren, über die jedoch in den Medien bislang deutlich weniger berichtet wurde, möchte ich kurz ausführen.
So berichten 76 Prozent der SchülerInnen von einem Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Schule. Dies heißt aber zugleich, dass dies für rund ein Viertel der SchülerInnen nicht gilt. 12 Prozent geben sogar an, sich in ihrer Schule einsam sowie als AußenseiterIn zu fühlen. Darüber hinaus sind laut eigenen Angaben etwa 21 Prozent der SchülerInnen mindestens ein paar Mal pro Monat Opfer von Mobbing. Und schließlich geben 22 Prozent der SchülerInnen an, unzufrieden mit ihrem Leben zu sein (2018 waren es mit 17 Prozent etwas weniger).
Dass eine mangelnde Zugehörigkeit bis hin zum Gefühl, sich an der eigenen Schule nicht sicher zu fühlen, Auswirkungen auf das Lernen hat, liegt auf der Hand. Gleiches gilt für SchülerInnen, die unzufrieden mit ihrem Leben sind. Hier gilt es, die Ursachen zu ergründen und geeignete Maßnahmen zu entwickeln. Unabhängig davon, dass dies mit Blick auf das Leben und Wohlbefinden der SchülerInnen relevant ist, bildet es zugleich die notwendige Voraussetzung für motiviertes und erfolgreiches Lernen.
Statt schockiert über die Leistungsergebnisse in eine Starre zu verfallen und anschließend Schuldige zu suchen, sollten wir gesamtgesellschaftlich verstärkt den Wert von Bildung, unsere Leitideen guten Lehrens und Lernens, unsere Bewertungspraxis von Leistungsergebnissen sowie die Art der Ableitung von Konsequenzen für das Bildungssystem in den Blick nehmen. Statt mit negativ gerichteten Begriffen wie im Titel des Förderprojekts „Aufholen nach Corona“ zu operieren, sollten wir eine Kultur des Denkens entwickeln, die Lehren und Lernen förderlich, zielorientiert und insgesamt positiv fasst. Wir sollten endlich den Mut haben, Lehren und Lernen in Schulen entscheidend zu verändern, statt aus Angst vor noch schlechteren (PISA-) Leistungen nur kleinste Veränderungen vorsichtig zu probieren oder lieber gleich alles so zu lassen, wie es ist. Und wir sollten dafür Sorge tragen, dass alle Kinder und Jugendlichen ein erfülltes und angstfreies Leben bestreiten können.
Falls jedoch in nächster Zeit der Vorschlag kommt, die im Vergleich zu anderen Nationen herausgearbeiteten Leistungsrückstände in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften durch Erhöhung des Deputats dieser Fächer und auf Kosten musikbezogenen Lernens innerhalb und außerhalb von Schule zu kompensieren, dann bin ich erst recht wirklich schockiert. Denn laut Ergebnisbericht untersucht die PISA-Studie, „wie gut die Schüler*innen komplexe Probleme lösen, kritisch denken und effektiv kommunizieren können“, weil dies Aufschluss darüber gebe, „wie gut die Bildungssysteme die Schüler*innen darauf vorbereiten, Alltagsprobleme zu bewältigen und künftige Erfolge zu erzielen“.
Na – wenn das mal kein Argument für mehr Instrumental- und Gesangsunterricht ist! Und dass Musizieren einen Beitrag zu einem erfüllten Leben leisten kann, ist hinlänglich bekannt.

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