© Oliver Röckle

Metsker, Gabriele

Himmel über Adelsheim

Das Stuttgarter Kammerorchester erarbeitete in Kooperation mit der Musikschule Möckmühl ein Programm mit jugendlichen Straftätern

Rubrik: Kooperation
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 38

Seit 2015 bereits entwickelt das Stuttgarter Kammerorchester (SKO) mit seinem „SKOhr-Labor“ partizipative Formate für Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Herkunft, übernimmt dadurch soziale Verantwortung und leistet einen wichtigen Beitrag zur Musikkultur nachfolgender Generationen. Im Projekt „Himmel über Adelsheim“ brachte es jugendliche Straftäter mit OrchestermusikerInnen und einem Rapper zusammen.

Nicht ganz ohne Grund erinnert der ­Titel des Abends im Wilhelma-Theater – „Himmel über Adelsheim“ – an den berühmten Filmklassiker Der Himmel über Berlin von Wim Wenders. Allerdings: Über Engel, die auf die Erde herabsteigen wie im Film von Wim Wenders, ist nichts bekannt. Wohl aber geht es in diesem außergewöhnlichen Projekt des Stuttgarter Kammerorchesters um die Gedanken und Lebenswelten der Menschen, über denen sich dieser Himmel wölbt: um jugendliche Strafgefangene, deren Empfindungen üblicherweise im Verborgenen schlummern. Einige Insassen der Justizvollzugsanstalt Adelsheim haben den Abend maßgeblich gestaltet – gemeinsam mit dem Stuttgarter Kammerorchester, das bei diesem Projekt nicht nur aktiv musikalische Brücken zwischen Beethoven und Rap-Musik realisiert, sondern schon über längere Zeit viel Geld, Zeit und persönliches Engagement eingebracht hat, um den jungen Männern diese großartige Erfahrung zu ermöglichen.
Neun Strafgefangene sind es insgesamt, die im Juli 2022 einen Abend lang das einzige Gefängnis für straffällig gewordene junge Männer in Baden-Württemberg verlassen dürfen. Sie sind um die 20 Jahre jung und was sie performen, ist das Ergebnis unzähliger Proben und Workshops, die schon vor der Pandemie begonnen hatten und wegen dieser immer wieder unterbrochen werden mussten. SKO-Musikvermittlerin Katharina Gerhard hat das Projekt maßgeblich auf den Weg gebracht und in der JVA gemeinsam mit einem großen Team umgesetzt. Der dortige Verwaltungsleiter Klaus Brauch-Dylla hat schon früher Projekte mit dem Landesjugendorchester begleitet und setzt sich immer wieder für solche Unternehmungen ein, die im Anstaltsbetrieb mehr Aufwand verursachen und deswegen nicht an allen Stellen nur beliebt sind. Immer wieder bei musikalischen Projekten mit Insassen der JVA dabei ist außerdem das Gesangsensemble „Vocalissimo“ der Musikschule Möckmühl unter Leitung von Regine Böhm.

Sehnsuchtstexte

Es jagt einem Gänsehaut über den Rücken, wenn von der Bühne aus klangmächtig aus vielen Mündern und Instrumenten tief empfundene Leidenschaft in den Zuschauerraum schwappt: „Nur wer die Sehnsucht kennt / Weiß was ich leide!“ Die von Beethoven vertonten Zeilen aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe singen die jungen Männer allesamt auswendig und mit großer innerlicher Beteiligung: „Nur wer die Sehnsucht kennt / Weiß was ich leide! Allein und abgetrennt / Von aller Freude, / Seh’ ich ans Firmament / Nach jener Seite.“ Doch es bleibt nicht bei Goethe und Beethoven: Unversehens wird ein Rap daraus, und diesmal sind es die Sehnsuchtstexte der Jugendlichen, die den Weg ins Mikrofon und direkt zum Publikum finden. Diese Texte haben sie in vielen Workshops zusammen mit dem Rapper Danny Fresh und dem Beatboxer und Musikproduzenten Pheel erarbeitet. Auch der renommierte Rapper Afrob, der das Projekt mit begleitet hat und auf der Bühne zu erleben ist, bringt am Ende des Abends seine Begeisterung über die Talente innerhalb der Crew deutlich zum Ausdruck.
Die Inhalte der Texte sind nicht zimperlich. Zum Glück gibt es sie ausgedruckt zum Mitnehmen im Foyer des Theaters, denn die Jungs stoßen die rhythmischen Silben so schnell und mit Nachdruck zwischen den Zähnen hervor, dass nicht jede automatisch zu verstehen ist. Auch den Jargon, den die jungen Männer untereinander verwenden, kennen oft nur Eingeweihte – im Ausdruck stehen daher entsprechende „Übersetzungen“. Sehr persönlich sind die Zeilen an vielen Stellen. Sie erzählen von einer Lebenswelt, die von der des klassischen Konzertpublikums Lichtjahre entfernt ist. Und doch sind es Gefühle, wie sie, aufs Essenzielle reduziert, wahrscheinlich fast alle Menschen haben. Die Söhne fühlen sich schlecht, wenn sie ihre Eltern, vor allem ihre Mütter, enttäuschen. Oder wenn sie für ihre Kinder kein Vorbild sein können.

Positive Erinnerungen

Auch gute Erinnerungen gibt es – das wird im Rahmen des Projekts immer wieder deutlich. Verschüttet oft, doch durch die Arbeit mit den Rappern, dem Orchester, der Regisseurin Nina Kurzeja und Dirigentin und Sopranistin Viktoriia Vitrenko wieder aus dem Dunkel des Vergessens geholt. Sie reißen mit ihrer sehr zugewandten, klaren Art alle ganz selbstverständlich mit.
Louis, der auch einen tief berührenden Prosatext geschrieben hat, hat inzwischen eine Gitarre in seiner Zelle und bringt sich selbst das Spielen bei. Ihm hilft das Texteschreiben dabei, die Dinge zu reflektieren. „Wenn ich mir im Kopf einen Beat vorstelle, kommt der Text von ganz allein“, sagt er. Dankbar ist er für den vielseitigen Input, den ihm das Projekt ermöglicht habe. Von achtstündigen Workshops erzählt er, die richtig anstrengend gewesen seien und nach denen er manchmal noch mehrere Stunden für die Zeitung der JVA am PC gesessen habe. „Man ist dann so müde, dass man abends einfach einschläft – das ist so schön!“, sagt er. Im JVA-Leben keine Selbstverständlichkeit.

Musik ins Leben holen

Jakob, der wie zehn weitere junge Männer nur bei der ersten Aufführung innerhalb der Gefängnismauern dabei sein durfte, lässt ebenfalls viel Musik in sein Leben. Er höre auf seiner Zelle Klassikradio, weil er das so beruhigend finde, sagt er. Doch der Live-Klang des Orchesters bei den Proben in der Turnhalle der JVA, das sei noch einmal etwas ganz anderes. Er hat schon einen riesigen Stapel an Texten geschrieben, die er nach seiner Entlassung alle mitnehmen wird.
Und er wünscht sich, dass die Menschen aus der Welt jenseits der Gefängnismauern auch seine Welt kennenlernen und verstehen, dass Rap-Texte nicht immer nur von Gangstern und deren Welt handeln. „Rap hat so viele Facetten!“, betont er. „Dazu braucht es Kreativität – die Texte zu schreiben, das ist auch Arbeit und eine Form von Kunst.“ Als Kind habe er immer wieder Instrumente gespielt, sagt er – aber das dann aus den Augen verloren.
Der junge Moses singt seinen Beitrag in seiner Muttersprache, in den Worten der Roma. Auch ohne die Übersetzung im Begleitheft kommt die Botschaft im Herzen an: Sehnsucht, Melancholie, Hoffnung. Umrahmt wird sein wunderschöner, tief berührender Gesang von Beethovens „Gedenke mein“, das aus den vielen Mündern seiner Mitgefangenen und des Möckmühler Ensembles „Vocalissimo“ erschallt.

Ein bisschen himmlisches Glück

Der Himmel öffnete sich so richtig im Wilhelma-Theater, als die vielen Ensemb­les zu einem großartigen Ganzen verschmelzen. Die jugendlichen Rapper singen Beethoven – der ja, wie sie in ihrer Zeitungsausgabe zur Aufführung schreiben, mitunter als ziemlicher Bürgerschreck galt – mit derselben Inbrunst, wie die WeltklassestreicherInnen des Kammerorchesters sich mit Haut und Haaren an die Beats der Rap-Nummern verlieren. Sogar der Seelsorger der Anstalt und mehrere Beamte singen stellenweise mit; einer spielt Ba˘glama und ein weiterer kommt mit zwei seiner Jungs und gibt eine Kostprobe seines Könnens als Breakdance-Weltmeister. Selbst zeitgenössischer Tanz wurde in das Projekt integriert.
Das Publikum will am Ende des Abends gar nicht mehr aufhören mit Jubeln, und die jungen Männer lassen einzelne Kollegen mit strahlenden Augen hochleben. Das ist wahrscheinlich das Allerschönste an diesem Abend – da glitzert ein bisschen himmlisches Glück: Wenn die Blicke der jungen Männer sich öffnen und vor Freude strahlen. Gleichzeitig war das Projekt insgesamt ein offenes und selbstbewusstes Projekt, das den Jugendlichen die Möglichkeit gab, Teil einer künstlerischen Produktion zu sein, ihnen neue Perspektiven eröffnete und sie aus ihrer Rolle befreien konnte. Ein Projekt, das entstigmatisierte und in der Begegnung zweier Welten beide Seiten bereicherte.
Ein Antrag zur Förderung eines nächsten Projekts mit der JVA Adelsheim in diesem Jahr wurde bereits gestellt und mit einzelnen Insassen, die in der Zwischenzeit die JVA verlassen durften, ist das Stuttgarter Kammerorchester in Kontakt für weitere künstlerische Treffen und Projekte.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2024.