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Häusler, Ricarda

Mimesis und Interpretation

Wie Nachahmungsprozesse das Interpretationslernen fördern können

Rubrik: Diskussion
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 53

Lehren und Lernen durch Nachahmung sind fester Bestandteil jedes Instrumentalunterrichts. In Bezug auf Interpretation wird jedoch mitunter davor gewarnt, dem Nach­ahmen zu viel Platz einzuräumen, da das musikalische Interpretieren als Akt des persönlichen musikalischen Ausdrucks und Verstehens gilt. Nachahmungsprozesse könnten somit die Ausbildung einer musikalischen Persönlichkeit behindern und zu Unselbstständigkeit führen. Wie also können Nachahmungsprozesse so in den Unterricht integriert werden, dass sie das Interpretations­lernen ­fördern und Raum für eigene musikalische Entscheidungen lassen?

Ganz egal, auf welchem Niveau sich MusikerInnen bewegen: Niemand würde sich wohl davon lossprechen, dass die eigenen Interpretationen sich bewusst oder unbewusst an Vorbildern orientieren. In der Instrumentalausbildung ist dieses Vorbild oftmals die Lehrkraft. Aber wie weit darf ihr Einfluss auf die Interpretation der SchülerInnen gehen? In meinem Musikstudium sind mir beide Ext­reme begegnet: Auf der einen Seite stehen Lehrkräfte, die so weit gehen, ihren SchülerInnen im Unterricht gar nicht vorzuspielen, damit diese ihre eigene Spielweise und Interpretation finden. VertreterInnen dieser Ansicht führen gerne das Argument an, dass das Nachahmen im Kontext der Interpreta­tion primitiv und oberflächlich sei und einen Mangel an Ausdruckskraft und eigenen Ideen widerspiegele. Das andere Ende der Fahnenstange bilden Lehrkräfte, die ihre eigene Interpretation als einzig gültige ansehen und von ihren SchülerInnen eine möglichst originalgetreue Kopie erwarten.1

Interpretation als Ziel

Interpretieren meint das klangliche Realisieren, Erklären und Deuten eines Notentextes. Die Begriffe „Realisieren“ und „Erklären“ weisen darauf hin, dass der Notentext über Strukturen und musikalische Aussagen verfügt, die durch die Interpretin oder den Interpreten offengelegt werden. Das Wort „Deuten“ zeigt, dass der Notentext um eigene Ideen und Empfindungen, durch persönlichen Anteil und Ausdruck angereichert wird.2 Das individuelle Verstehen und Empfinden von Musik sorgt dafür, dass Interpretationen schlussendlich subjektiv sind und es keine einzig gültige, „richtige“ Interpretation eines Werks geben kann.3
SchülerInnen zu eigenen musikalischen Interpretationen zu befähigen und zu ermutigen sowie ihnen das nötige Handwerkszeug dafür mitzugeben, stellen zentrale Ziele des Instrumentalunterrichts dar. Wie kann aber das musikalische Interpretieren, das doch so stark mit der eigenen Persönlichkeit in Verbindung gebracht wird, ausgerechnet durch Prozesse des Nachahmens vermittelt werden? Gehen nicht gerade die Individualität und Subjektivität der Interpretation verloren, wenn SchülerInnen versuchen, ihre Lehrkräfte nachzuahmen?

Kreative Nachahmung statt Kopie

Der Schlüssel ist die kreative oder auch transformative Nachahmung, die an den Begriff der Mimesis geknüpft ist.4 Damit ist nicht das originalgetreue Kopieren eines Vorbilds, sondern eine „Anähnlichung“5 gemeint. Durch diese Form der Nachahmung haben SchülerInnen die Möglichkeit, sich mit der Lehrkraft und deren Interpretation auseinander- und in Bezug zu setzen und auf kreative Weise eine eigenständige Version zu entwickeln.6 Kreative Nachahmung führt nicht zu einem originalgetreuen Abbild, sondern immer zugleich zu Ähnlichkeit und Differenz und bewahrt die Individualität7 sowie die Möglichkeit zur Innovation.8
Jan Jachmann konnte in einer Forschungsarbeit zeigen, dass die Interaktion und die Erarbeitung einer Interpreta­tion im Instrumentalunterricht in erster Linie auf solchen Prozessen der kreativen Nachahmung beruhen. Durch die Auseinandersetzung mit den sogenannten „Vorahmungen“ der Lehrkraft können InstrumentalschülerInnen ihren ästhetischen Erfahrungsschatz erweitern sowie einen eigenen Geschmack und Selbstbewusstsein im Umgang mit Musik entwickeln.9 Voraussetzungen dafür sind Offenheit der Lehrkraft für die musikalischen Ideen der SchülerInnen sowie eine Unterrichtsbeziehung auf Augenhöhe. Wie können Lehrkräfte nun kreative Nachahmungsprozesse im Kontext des Interpretationslernens anregen?

Ausdrucksvolles Vorspielen
Allein das ausdrucksvolle Vorspielen längerer Passagen durch die Lehrkraft kann Einfluss auf das Interpretationslernen nehmen. Ein wichtiger Grundstein des Interpretierens ist eine innere Klangvorstellung, die vor allem auf musikalischer (Hör-)Erfahrung beruht. Je mehr Musik verschiedener Zeiten und Stile sowie diverser Charaktere und Emotionen SchülerInnen kennen, desto reicher wird ihr musikalischer und ästhetischer Erfahrungsschatz. Schon Johann Joachim Quantz empfiehlt dem Anfänger, „so viel gute Musiken, welche einen allgemeinen Beyfall finden, anzuhören, als er nur immer kann“.10 Dadurch „wird er also das Gute so er von einem und den andern höret, nachahmen, und sich zu Nutze machen können.“11 Das Vorspielen der Lehrkraft und das bewusste Zuhören der SchülerInnen sollte daher gerade im Anfangsunterricht einen festen Platz haben – jedoch ohne der Selbstinszenierung der Lehrkraft zu dienen!
Das Vorspielen kann auch ganz gezielt eingesetzt werden, um SchülerInnen auf interpretatorische Gestaltungsmittel wie Tempo, Dynamik, Artikulation oder Klangfarbe aufmerksam zu machen und diese gemeinsam im Unterricht zu erproben. Beispielsweise kann die Lehrperson ein Stück in verschiedenen Tempi vorspielen und die SchülerIn fragen, inwiefern sich der Charakter des Stücks durch die Tempowahl verändert.
Neben dem Vorspielen kann auch schon das ausdrucksvolle Mitspielen, Mitsingen oder Mitdirigieren der Lehrkraft zum ästhetischen Erfahrungsschatz von SchülerInnen beitragen.12 Zudem empfiehlt es sich, SchülerInnen auch außerhalb des Unterrichts zum bewussten Musikhören anzuregen, z. B. durch Vorschlagen und Diskutieren von Audioaufnahmen. Inspirierend können auch gemeinsame Konzertbesuche sein.

Spielerisches Nachahmen
Auch spielerische Möglichkeiten des Nachahmungslernens können eingesetzt werden. Dabei können sich Lehrkräfte die Nachahmungsfähigkeit der Musik selbst zu Nutze machen. Schon Aristoteles beschreibt die Musik in seiner Poetik als mimetische Kunst, die Charaktere, Emotionen und Handlungen nachahmt.13 Am offensichtlichsten zeigt sich das in der Programmmusik. Aber auch abseits davon beinhaltet Musik körperliche Klanggesten wie z. B. Seufzer oder Lachen, Weinen oder Hüpfen.14
Solche Klanggesten können spielerisch in den Instrumentalunterricht und das Interpretationslernen eingebunden werden. Die Lehrkraft kann beispielsweise eine kurze freie Improvisation darbieten und musikalisch mit dem Ausdruck der Freude, Trauer, Wut, Angst usw. versehen. Die Schülerin soll die entsprechende Emotion erkennen und erklären, durch welche Gestaltungsmittel sie in der Musik und auf dem Instrument ausgedrückt wurde. Im Anschluss kann die Schülerin versuchen, diese Gestaltungsmittel in eine eigene Improvisation einzubinden.
Hilfreich ist es auch, sich eine Person vorzustellen, die z. B. freudig oder wütend ist. Wie würde diese Person sich verhalten? Welche verbalen und körperlichen Gefühlsausdrücke könnte sie benutzen? Eine Person, die freudig ist, wird vielleicht lachen oder euphorisch sprechen oder singen, vielleicht fröhlich hüpfen. Wut äußert sich hingegen z. B. in Schreien oder Aufstampfen. Manchmal ist es gut, verschiedene Emotionen zunächst schauspielerisch umzusetzen, bevor sie mit dieser Erfahrung auf das Instrument übertragen werden.
Innere Vorstellungen zu Musik können das Verstehen und die eigene Interpretation von SchülerInnen positiv beeinflussen. Wenn sie sich z. B. eine Person oder eine Geschichte zu einem Stück ausdenken und innerlich vorstellen, führt das zu einer größeren Identifikation mit diesem Stück und zu einer gesteigerten Ausdruckskraft. Gleichzeitig werden die Fantasie und das Selbstbewusstsein im Umgang mit Musik angeregt.

Fazit

Interpretationslernen und die Ausbildung einer musikalischen Persönlichkeit können Lehrkräfte fördern, indem sie Prozesse der kreativen Nachahmung im Unterricht anregen. Dies kann durch ausdrucksvolles Vor- und Mitspielen der Lehrkraft oder durch gezielte Übungen und Spiele geschehen. In einer lebendigen und offenen Interaktion aus gegenseitigem Vor- und Nachahmen können SchülerInnen einen selbstständigen Umgang mit Musik entwickeln. Elementar für das Interpretationslernen ist nicht zuletzt die Vermittlung von Musik als mimetischer Kunst selbst.

1 Zum Thema Nachahmungslernen im Instrumental­unterricht vgl. Mahlert, Ulrich: „Mimesis und Imitatio. Nachahmungslernen im Instrumentalunterricht“, in: üben & musizieren, Heft 5, 1998, S. 12-19 und Mahlert, Ulrich: „Nachahmungslernen im Instrumentalunterricht – Möglichkeiten und Probleme“, in: Bastian, Hans-Günther (Hg.): Musik begreifen. Künstlerische Ausbildung und Identitätsfindung, Mainz 1999, S. 54-71.
2 vgl. Richter, Christoph: „Interpretation durch Musizieren. Die darstellende Aufgabe des Musizierens und des Instrumentalunterrichts. Ein kleiner Ratgeber in vier Thesen und acht praktischen Anregungen“, in: Brandstätter, Ursula/Losert, Martin/Richter, Christoph/Welte, Andrea (Hg.): Darstellen und Mitteilen. Ein Handbuch der musikalischen Interpretation, Mainz 2010, S. 11-24.
3 vgl. Mantel, Gerhard: Interpretation. Vom Text zum Klang, Mainz 2007, S. 25.
4 Die Begrifflichkeiten gehen zurück auf Mahlert 1998/1999 und Jachmann, Jan: Gemeinsam Musik schaffen. Instrumentalunterricht als performative Interaktion, Berlin 2020, https://opus4.kobv.de/opus4-udk/frontdoor/index/index/docId/1334 (Stand: 1.9.2023).
5 Wulf, Christoph: „Mimetisches Lernen“, in: Göhlich, Michael/Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.): Pädagogische Theorien des Lernens, Weinheim 2007, S. 91-101, hier: S. 98.
6 vgl. ebd., S. 97.
7 ebd., S. 96 f.
8 Wulf, Christoph: „Mimetisches Lernen als kulturelles Lernen (Mimetic Learning as Cultural Learning)“, 2017, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3655545 (Stand: 1.9.2023).
9 vgl. Jachmann 2020, S. 36 f.
10 Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung, die Flöte traversiere zu spielen, Leipzig 1983 (Berlin 1752), S. 97.
11 ebd.
12 vgl. Dartsch, Michael: „Vom Kinderlied zum Mozart-Duett. Interpretation im Anfangsunterricht“, in: Brandstätter/Losert/Richter/Welte 2010, S. 61-71, hier: S. 61 f.
13 vgl. Aristoteles: Poetik, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2014, S. 5-7.
14 vgl. Rüdiger, Wolfgang: Der musikalische Körper. Ein Übungs- und Vergnügungsbuch für Spieler, Hörer und Lehrer, Mainz 2007 sowie Rüdiger, Wolfgang: „Lasst ­Gesten sprechen! Wo Worte im Instrumentalunterricht stören“, in: üben & musizieren, Heft 5, 2013, S. 38-41.

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