Frey, Nikolaus

Wunderkinder und Großmeister am Klavier

Karrieren, Krisen und Katastrophen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Staccato Verlag, Düsseldorf 2023
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 59

Mit diesem Buch gelingt es Nikolaus Frey, die vorhandene Literatur über große PianistInnen um einen interessanten neuen Aspekt zu bereichern. Anhand von insgesamt 18 Pianisten-Biografien geht er der Frage nach, welche Faktoren, außer einer herausragenden Begabung, für eine erfolgreiche Karriere förderlich waren und welche Umstände in Krisen bzw. Misserfolge geführt haben. Dabei kommen die unterschiedlichen persönlichen Ressourcen der KünstlerInnen ebenso zur Sprache wie die Einflüsse von Eltern und Lehrern sowie politische Konstellationen.
Die Biografien sind chronologisch geordnet, beginnend mit dem Jahr 1895, in dem Wilhelm Kempff, Clara Haskil, Walter Gieseking und Loris Margaritis geboren wurden. Letzterer war der „Griechenknabe“, dessen Auftritt in München im Alter von acht Jahren Thomas Mann zu seiner Erzählung Das Wunderkind inspiriert hat. Auch in den folgenden Kapiteln werden jeweils mehrere etwa gleichaltrige KünstlerInnen einander gegenübergestellt. Den Abschluss bilden die zwischen 1930 und 1932 geborenen Pianisten Friedrich Gulda, Glenn Gould und Alfred Brendel.
In der Hauptsache geht es, wie aus den genannten Namen bereits ersichtlich, um die Großen des Fachs. Der Autor hat jedoch in dieser Hinsicht keine Vollständigkeit angestrebt, sondern seine Auswahl so getroffen, dass möglichst viele Aspekte seiner zentralen Fragestellung dargestellt werden konnten, und dabei auch PianistInnen berücksichtigt, deren Karrieren nicht ganz so glanzvoll verlaufen sind.
Die einzelnen Schilderungen unterscheiden sich hinsichtlich Umfang und Detailreichtum. Besonders aufschlussreich sind, dank einer guten Quellenlage, die Kapitel über Claudio Arrau und Glenn Gould. Mit Ervin Nyiregyházi und György Cziffra werden zwei Künstler gewürdigt, die in ihrer Jugend mit ähnlich guten Erfolgsaussichten gestartet sind wie die heute noch klangvollen Namen, deren spätere Leistungen jedoch umstritten waren und die heute weitgehend vergessen sind.
Doch nicht nur krisenhafte Situationen, sondern auch glanzvolle Aspekte gelingenden Künstlertums erfahren eingehende Würdigung. So gelingen Frey immer wieder treffende und suggestive Beschreibungen denkwürdiger Konzerte und Plattenaufnahmen. Zwei literarische Exkurse – zur bereits erwähnten Erzählung Das Wunderkind von Thomas Mann und zum Roman Der Untergeher von Thomas Bernhard – bieten weit mehr als eine schöngeistige Ergänzung. In ihnen kommen wichtige Aspekte des künstlerischen Arbeitens zur Sprache, die sich einer nüchtern beschreibenden Darstellung entziehen. Das Buch ist fließend geschrieben und das Lesen ist nicht nur lehrreich, sondern macht auch viel Freude.
Sigrid Naumann