Dajnov, Evgenij

Politik und Rock’n’Roll

Wie kamen wir von „Love Me Do“ auf Donald Trump?

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Konturen, Wien 2022
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 60

Das Buch handelt vom Zeitgeist der vergangenen 60 Jahre, also davon, wie sich Ideen und Lebensgefühl in dieser Zeit gewandelt haben. In all den Spannungen und Widersprüchlichkeiten dieser geschichtlichen Epoche sieht der Autor im Kern eine erschütternde Wende von der Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung auf eine bessere Zeit zur heutigen Atmosphäre von Irritation und Feindseligkeit. Bildlich gesprochen sehen wir mit den Augen des Autors am Anfang die sonnige und frische Welt von „Love Me Do“ und nun die dunkle und aggressive Welt von Donald Trump und seinesgleichen.
Evgenij Dajnov ist Professor für Politologie an der Neuen Bulgarischen Universität und bezeichnet sich als „Musiker und Aktivist“. Er hat in Oxford studiert, in den USA unterrichtet und viele Länder in Ost und West aus der Nähe kennen gelernt. Dieser biografische und professionelle Hintergrund ermöglicht ihm eine spezifische Sichtweise auf die Entwicklungen des vergangenen halben Jahrhunderts. Es ist beeindruckend, wie viele und welche weltanschaulichen Ideen, politischen Positionen, gesellschaftlichen Ereignisse und kulturellen Entwicklungen hier in Zusammenhang miteinander gebracht werden.
Der Text ist in der sprachlichen Form eines Essays verfasst. Im Vordergrund steht die analytische Darstellung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen, in der Sprache geht es dem Autor vor allem darum, mit seinen Sichtweisen rhetorisch überzeugend und gleichzeitig unterhaltsam zu sein. In den 14 Kapiteln zeigen die Überschriften den Versuch, für jeweils eine kürzere oder längere Zeitspanne einen spezifischen Aspekt zu betrachten und dementsprechend einen Fokus für die Darstellungen und Interpretationen zu finden. Typische Kapitelüberschriften sind etwa „Der Anbruch des Wassermannzeitalters“, „Fallende Würfel“, „Das Gute, das Schlechte und das Hässliche im Westen 1979-1989“; andere Überschriften eröffnen ein musikalisches Assoziationsfeld: „Get My Mojo Working“, „Die dunkle Seite des Mondes“, „Winde des Wandels“.
Der Bezug zur Musik ist vom Genre her weiter, als der Buch­titel vorgibt: „Rock’n’Roll“ meint eine Haltung, die sich in durchaus verschiedenen Musikstilen zeigt. Gleichzeitig kommt die Musik viel zu kurz: Die häufig auftauchenden Bezüge zu Songtexten und Musikerpersönlichkeiten, kaum irgendwo zur Sprache der Musik selbst, sind nicht viel mehr als Aperçus. Am Ende des spannenden und angemessen widerspruchsvollen Narrativs vom vergangenen halben Jahrhundert stehen, eher überraschend, optimistische Wendungen über Wahrscheinlichkeiten, dass wir doch auf dem Wege ­seien, „eine geordnete und zivile Lebensweise wiederherzustellen“.
Franz Niermann