Herbst, Sebastian

Wirklich schockiert!

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 2/2024 , Seite 39

In der vergangenen Ausgabe von üben & musizieren habe ich an dieser Stelle die unmittelbaren „Schock“-Reaktionen der Presse auf die schlechten PISA-Ergebnisse für Deutschland in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften diskutiert. Mich schockierten jedoch viel mehr andere Ergebnisse, die für das Lernen ebenso relevant sind: 24 Prozent der SchülerInnen fühlen sich nicht zugehörig zu ihrer Schule, 12 Prozent fühlen sich als AußenseiterIn, 21 Prozent werden mindestens einmal pro Monat Opfer von Mobbing und 22 Prozent sind unzufrieden mit ihrem Leben – bis heute in der Presse wenig diskutiert.
Ich schloss meine damaligen Überlegungen mit folgendem Satz: „Falls jedoch in nächster Zeit der Vorschlag kommt, die […] Leistungsrückstände in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften durch Erhöhung des Deputats dieser Fächer und auf Kosten musikbezogenen Lernens […] zu kompensieren, dann bin ich […] wirklich schockiert.“ Dass der Fall eintreffen würde, hatte ich nicht geglaubt – war ich doch der Meinung, dass wir die Relevanz des Fachs Musik auch dank der vielfältigen, erfolgreichen musikbezogenen Bildungsprogramme der vergangenen Jahre heute nicht mehr grundlegend diskutieren müssten.
Dann jedoch las ich die ersten Schlagzeilen zur „PISA-Offensive Bayern“. Als Konsequenz aus den PISA-Ergebnissen soll die Lernzeit in der Grundschule in den Fächern Deutsch und Mathematik erhöht werden. Im Gegenzug erfolgt eine sogenannte „Flexibilisierung in der Stundentafel“ mit Blick auf die Fächer Kunst, Musik, Werken und Gestalten sowie zum Teil Heimat- und Sachunterricht – bei insgesamt weniger Stunden. Ob wohl die Erhöhung der Anzahl von Musikunterrichtsstunden auch die Antwort wäre, wenn wir in einer hypothetischen PISA-Studie zu musikbezogenen Leistungen im Vergleich zu anderen Nationen schlecht abschnitten?
Flexibilisierung meint, dass Lehrende „im Rahmen einer altersgerechten fächerverbindenden Unterrichtsplanung zeitliche und inhaltliche Schwerpunkte setzen“ können. Geschickt formuliert: „Kein Fach wird gestrichen, der Stundenumfang für das jeweilige Fach kann innerhalb der vorgegebenen Bandbreite variieren“ – und es wird klug auf fächerverbindendes Unterrichten verwiesen. Dass die Gefahr einer Schwächung des Unterrichtsfachs Musik und damit eine musikbezogene Bildungsbenachteiligung einiger Kinder zu befürchten ist, liegt jedoch auf der Hand.
Die Schwächung des Fachs überrascht dabei insofern, als dass das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus erst kürzlich die Auszeichnung von Grundschulen mit dem Profil „Musikbegeisterte Grundschule“ eingeführt hat. Zum Schuljahr 2023/24 wurden 140 Grundschulen in Bayern gewürdigt, in denen Musik eine hervorgehobene Rolle spielt – künftig also Schulen, in denen die Flexibilisierung in der Stundentafel zugunsten des Fachs Musik erfolgt?
Es ist ganz richtig: Dem Trend zu schlechteren Leistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen sollten wir in der Tat entgegenwirken. Die „PISA-Offensive Bayern“ führt auch viele Maßnahmen ein, die dazu beitragen können: Sprachförderung vor Start in die Grundschule, Diagnoseinstrumente zur Lernausgangslage und zum Lernzuwachs, eine Fortbildungsoffensive sowie die Bereitstellung von Materialien zur Förderung. Ziel ist die Verbesserung der Unterrichtsqualität. Sinnvoll! Aber warum auch noch eine Erhöhung der Stundenzahl in Deutsch und Mathematik auf Kosten anderer Fächer? Führen mehr Stunden tatsächlich zu besseren Ergebnissen?
Eine Petition, die einen eigenständigen Platz der Fächer Kunst und Musik im Stundenplan fordert, wurde eingerichtet und findet viel Zuspruch. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Dialog mit den politischen Entscheidungsträgern weiterentwickelt. Als Konsequenz der PISA-Offensive dürfte jedoch ein Punkt zentral sein, den der Präsident des Bayerischen Musikrats im Interview mit BR-Klassik (28.02.2024) äußerte: „Was wir machen können, ist zumindest dafür zu sorgen, dass die Musik in dem neuen Fächerverbund nicht untergeht. Wir können uns da noch stärker auf die Lehrerausbildung konzentrieren.“
Zwei PISA-Ergebnisse, zu denen Konsequenzen in der PISA-Offensive wünschenswert wären, seien abschließend unkommentiert zitiert: „2022 besuchten 73% bzw. 25% der Schüler*innen Schulen, in denen der Unterricht laut Angaben der Schulleitungen durch einen Mangel an Lehrkräften bzw. durch ungenügend oder schlecht ausgebildete Lehrkräfte beeinträchtigt wurde.“ „Die Daten […] zeigen, dass sich Schüle­r*innen in Bildungssystemen, in denen die Leistungen hoch geblieben sind und sich das Zugehörigkeitsgefühl der Schüler*innen verbessert hat, tendenziell sicherer fühlen und weniger mit Mobbing und anderen Risiken in ihrer Schule konfrontiert sind.“

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