© Tobias Melle

Flemming, Ulrike

Musik als ordnende Kraft

Seit 20 Jahren bahnt das Projekt „Niños en Armonía“ Kindern in Argentinien den Weg in eine Zukunft

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2024 , Seite 50

In den 1990er Jahren wurde ich mit meinem damaligen Mann Jordi Mora eingeladen, musikalische Meisterkurse in der ehemaligen Estanzia Sta Maria de la Armonía bei Mar del Plata in Argentinien zu geben. 2003 kam es dort im Park zu einer Begegnung mit einer Gruppe von Kindern mit aufgeweckten Gesichtern, die jedoch sehr ärmlich gekleidet waren. Auf meine Frage an eine der dort lebenden Schwestern der katholischen Schwesterngemeinschaft „Servidoras“, wo denn diese Kinder herkämen, bekam ich die Antwort, es seien Kinder von Familien aus der Umgebung, die seit Generationen in sozial gefährdenden Umständen und ohne jede berufliche Perspektive aufwachsen müssten. Ihre Worte „Wenn diese Kinder nur Musik lernen würden, ihr Leben würde sich ändern“ schlugen bei mir wie ein Blitz ein und lösten eine folgenreiche Entwicklung aus.
Nachdem klar geworden war, dass von argentinischer Seite keine finanzielle Hilfe zu erwarten ist – außer der bedingungslosen Mitarbeit der „Servidoras“ –, gründete ich 2004 in München den Verein „Niños en Armonía e. V.“ Über diesen Verein wurden und werden Spenden und Instrumente gesammelt. Da die Kinder in einem Einzugsgebiet von fünfzig Kilometern ohne Verkehrsanbindung leben, müssen sie gefahren werden. Dafür war es notwendig, geeignete Fahrzeuge zu beschaffen.
Schließlich erkannte ich, dass es vor Ort weder pädagogisch gut ausgebildete Instrumentallehrkräfte gab noch didaktisches Material vorhanden war. In Argentinien herrscht immer noch ein altmodisches System für musikalische Ausbildung. An Konservatorien muss man zunächst vier Jahre lang „Lenguaje musical“ (vor allem Solfeggio) lernen, ehe man als befähigt gilt, ein Instrument zu erlernen. Die einzig existierende pädagogische Alternative ist die Suzuki-Methode.
Ein Glücksfall, dass wir in Mar del Plata auf Ingrid Ostrowski stießen: die erste Musiktherapeutin Argentiniens, die in den 1960er Jahren in Wien studiert hatte. Sie begann mit einer Gruppe von 15 Kindern mit zehn Plastikblockflöten zu arbeiten. Sehr bald folgten Violin-, Viola- und Cellounterricht durch junge InstrumentalistInnen aus Mar del Plata, die ich während meiner Besuche anleitete. Von Anfang an kamen auch deutsche Abitu­rientInnen, die ein Orchesterinstrument beherrschen und interessiert sind an einem Sozialpraktikum. Jeder von ihnen brachte nicht nur neue Ideen und Anregungen mit, sondern erwies sich als unschätzbare Verbindung zwischen Kindern, Lehrkräften und „Servidoras“ durch das besondere Vertrauen, welches sie bei den Kindern genossen.
Bei meinen regelmäßigen Besuchen beobachtete ich, wie schnell und unkompliziert die Kinder lernten. Ich erstellte Schulen aus Material verschiedener deutscher Instrumentalschulen. Von Anfang an war das Ziel, dass die Kinder so schnell wie möglich zusammen musizieren sollten. Die Stücke mussten gut komponiert oder arrangiert sein. Eines der ersten größeren Werke, welches die Kinder begeisterte, war die Don Quixotte-Suite von Georg Philipp Telemann!
Wir bemühen uns, jederzeit offen zu beobachten und schnell darauf zu reagieren, was funktioniert und was nicht. Menschliche Wärme, auch Körperkontakt, der von den Kindern häufig gesucht wird, ist selbstverständlich. Sehr bald mussten wir erkennen, dass für einige Kinder und Jugendliche eine professionelle psychologische Betreuung unabdingbar ist. Auch die zu Beginn des Projekts kaum vorhandene Disziplin unter den Kindern sowie Rückschläge nach vielversprechenden Anfängen mussten wir hinnehmen, doch konnte das unsere Arbeit nicht aufhalten.
Aus anfänglich 15 Kindern wurden bald 140 Kinder und Jugendliche. Sie kommen mindestens dreimal pro Woche in die Estanzia, in der wir im ehemaligen Kutschenhaus zwei Orchestersäle und fünf Unterrichtsräume errichten konnten. SchülerInnen und Lehrkräfte werden empfangen von Suky Perez, der Impulsgeberin unseres Projekts, die gemeinsam mit Leila, einer weiteren Servidora, alle Aktivitäten koordiniert und für alle ein offenes Ohr hat. Nach einer warmen Mahlzeit und einer Stunde Spielen und Sport erhält eine Gruppe Instrumentalunterricht (anfänglich in Gruppen, so bald wie möglich jedoch Einzelunterricht), während die andere Hausaufgabenbetreuung von pensionierten Lehrerinnen oder auch ehemaligen Schülern erhält. Das Anfängerorchester (ab sechs Monaten Unterricht) probt abschließend noch eine Stunde mit einem venezolanischen, in El Sistema ausgebildeten Lehrer.
Samstags finden die Register- und Orchesterproben des Mittelstufenorchesters sowie der Camerata statt. Letztere setzt sich aus fortgeschrittenen SchülerInnen und den Lehrkräften zusammen und probt im Allgemeinen ohne Dirigenten. Partituren, Stimmen, Fingersätze und Striche sende ich von Deutschland aus zu.
Jedes Jahr werden zwei Programme einstudiert und in Auftritten in und um Mar del Plata und Buenos Aires präsentiert. Die Werke umfassen alle Epochen der klassischen Musik, lateinamerikanische Folklore, Jazz und Pop. Höchst interessant ist, dass bei der Frage, welche Stücke sie am meisten lieben, die Kinder und Jugendlichen zumeist eines aus der Klassik nennen.
Wenn ich vor Ort bin, arbeite ich mit den drei Orchestern täglich. Von Anfang an untersuchen wir Spannungsverläufe in den Melodien und Harmonien, entdecken die Beziehungen der Teile zueinander, suchen den Höhepunkt jedes Satzes. Wir versuchen, die Stimmung und Gefühle, die in der jeweiligen Partitur stecken, zu entdecken und davon ausgehend auf die passende Artikulation zu kommen; eine Arbeit, die für Kinder, die durch Gewalterfahrung oft gelernt haben, ihre Emotionen zu unterdrücken, Gold wert ist.
Geschichtliche Lücken können gefüllt werden durch die Beschreibung der Zeit, in der die jeweiligen Komponisten gelebt haben. (Als wir beispielsweise mit der Don Quixotte-Suite begannen, musste ich feststellen, dass die Kinder keine Ahnung hatten, was ein Ritter oder ein Schloss ist.) Wir versuchen, wenn möglich, Parallelen zur Lebenswirklichkeit der Kinder herzustellen und heilsame Schlüsse für ihr Leben zu ziehen.
Alle Kinder, die unser Projekt durchlaufen, machen inzwischen ihren Schulabschluss, einige studieren an der Universität Mar del Plata, andere machen eine Ausbildung, alle aber verdienen ihren Lebensunterhalt selbst. Kinderschwangerschaften, Drogen und Kriminalität spielen keine Rolle mehr. Ihre Familien haben sich zu gegenseitig unterstützenden Gemeinschaften entwickelt. Derzeit studieren sieben unserer SchülerInnen, ausgestattet mit einem Stipendium der Matthias-Wissmann-Stiftung, Musik in Buenos Aires. Sie kehren regelmäßig zurück, unterrichten, spielen in der Camerata und haben jederzeit die Gelegenheit, Solokonzerte mit Orchester aufzuführen. Wir sind immer wieder überrascht und beglückt zu erleben, wie die Musik tatsächlich als ordnende, disziplinierende und harmonisierende Kraft wirkt.

 

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