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Mahlert, Ulrich

„Wenn ich ein Instrument sehe, hör ich’s auch“

Christine Löbbert über Musikunterricht mit Hörgeschädigten und deren Musik-Erleben

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2024 , Seite 54

Christine Löbbert war von 2001 bis 2020 als Musiklehrerin am Bildungs- und Beratungszentrum Förder­schwerpunkt Hören in Stegen bei Freiburg tätig. Seither arbeitet sie als Akademische Mitarbeiterin im Fach Instrumental- und Gesangspädagogik an der Hochschule für Musik Freiburg.

Liebe Christine, welche pädagogische Idee hat dich bei deinem Musikunterricht am Stegener Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte geleitet?
Ich verstehe meinen Musikunterricht als ein Ergründen und Entfalten der individuellen Persönlichkeiten meiner Schüler. Selektive Funktionen durch Leistungsnormen wie in anderen Fächern möchte ich unbedingt vermeiden.

Was lässt sich über die Schülerinnen und Schüler der Stegener Einrichtung sagen?
Viele kommen aus einem wenig bildungsaffinen Umfeld. Der klassische Musikbetrieb ist definitiv nicht ihre Welt. Das muss ja auch überhaupt nicht sein. Für mich ergibt sich daraus die Frage, welche Inhalte vermittle ich – und vor allem: wie vermittle ich sie so, dass sie für die Schülerinnen und Schüler sinnstiftend werden?

Wie kommen die Schüler mit ihren Beeinträchtigungen zurecht?
Die Technik kann Hörbehinderungen erheblich reduzieren. Die Hörgeräteentwicklung hat in jüngster Zeit derartige Fortschritte gemacht, dass viele Schülerinnen und Schüler anders als vor zwanzig Jahren, als ich in Stegen anfing, inklusiv beschult werden können. Von daher ist es immer eine schwierige Entscheidung, ein Kind an eine Sonderschule zu geben. Und eine Schule speziell für Hörgeschädigte ist und bleibt eine Sonderschule.

Worin liegt das Besondere dieser Sonderschule?
Ich sehe Parallelen zwischen Musikschulen und Sonderschulen. Eine Sonderschule versteht sich als stark auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Auch viele Musikschullehrkräfte folgen dieser Leitidee. Man will sich ein bisschen von der feindlichen großen Welt abheben. So entsteht ein Wir-Gefühl in der Schulgemeinschaft: Wir schauen aufeinander, wir sind familiär.

Also auch das Gefühl: Wir sind etwas Besonderes?
Ja.

Siehst du das kritisch?
Naja, es ist immer die Frage, wofür es eingesetzt wird. Ich stehe voll hinter einer Sonderschule, die Kinder befähigt rauszugehen, die schulische Komfortzone zu verlassen und sich selbstbewusst in der Gesellschaft zu verorten, in ihr und für sie zu handeln. Schule soll Selbstermächtigung bewirken. Das ist mein großes Ziel als Lehrerin. Wenn eine Schule das nicht anstrebt, sehe ich das durchaus kritisch.

Was war deine spezielle Tätigkeit in Stegen?
Ich war hauptsächlich im Realschulzweig tätig, also in den Klassen 5 bis 10, war aber auch immer wieder in Projekte der Inklusion eingebunden, auch in der Grundschule und der gymnasialen Oberstufe. Studiert habe ich die Fächer Musik, Englisch, Deutsch für das Lehramt an Realschulen.

Was hat dich an diese Schule geführt?
Ich bin nach Stegen gekommen, weil eine Lehrkraft für die 7. Klasse in Englisch und Deutsch ausgefallen war. Ich kam zum Vorstellungsgespräch und wurde befragt, was ich mir denn vorstellen könnte, ob und wie ich mich mit meinen Potenzialen in die Schule einbringen könnte. Da meldete sich die Musikerin in mir und ich entwickelte Visionen für Orchester, Chor, Musikunterricht. Daraufhin entstand eine eigenartige Stille im Raum. Man sagte mir, dies sei eine Hörgeschädigtenschule und Musikunterricht gäbe es daher nicht, daran sei kein Bedarf. Ich dachte, o je, als Musikerin hätte ich eigentlich wissen müssen, dass das Hören doch eine Voraussetzung für Musikmachen ist. Ich hatte das irgendwie vergessen.
Als dann eine Weihnachts- und eine Entlassfeier bevorstanden, habe ich mit meinen Klassen in Englisch und Deutsch auch etwas Musik gemacht. Hilfreich war dann eine sehr engagierte Psychologin an der Schule. Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, Musik als Ressource für Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung zu untersuchen. Ihre Überlegung war, ob Musik für deren Erleben und Leben vielleicht einen besonderen Wert haben könnte. Dann haben wir ein Jahr lang mit einer Neurolinguistin von der Uni Freiburg eine Pilotstudie an der Schule durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten ganz klar, dass der Umgang mit Musik signifikant bedeutsam für den Spracherwerb hörgeschädigter Jugendlicher ist. Damit konnte ich Musik als Unterrichtsfach einführen. Von da ab habe ich nur noch Musik unterrichtet. Und damit hatte ich auch alle Freiheiten. Ich war die einzige Lehrkraft für Musik.

Hattest du einen festen Lehrplan für den Musikunterricht?
Wir unterrichteten nach dem Lehrplan der Realschule. Es gibt auch einen Lehrplan extra für Hörgeschädigtenschulen, der kam dann später. Für mich war immer die Hauptfrage: Was ist wirklich sinnstiftend für diese Schülerinnen und Schüler? Und dann hatte ich ein Erlebnis. Ich besuchte mit Schülern eine Probe des Freiburger Barockorchesters. Da sagte ein Schüler: „Wissen Sie, Frau Löbbert, wenn ich ein Instrument sehe, dann hör ich’s auch.“ Sofort wurde mir klar: Wir brauchen einfach ganz viel Live-Musik.

Du hast als Lehrerin von Hörgeschädigten mit verschiedenen Orchestern kooperiert. Das Freiburger Barockorchester hat eine Patenschaft mit eurer Schule übernommen. Worin bestand die Kooperationen?
Das Freiburger Barockorchester war regelmäßig bei uns an der Schule; ich besuchte mit Klassen viele Proben und Konzerte. Dann folgten viele Projekte mit dem damals noch existierende SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg.

Wie lief das? Was geschah in der Zusammenarbeit mit Orchestern? Was erfahren die Schülerinnen und Schüler und was die Orchestermusiker in ihrem Zusammenwirken?
Ich hab mir angeguckt, was gibt’s für Musik in Freiburg, wie kann ich organisieren, dass meine Schüler dorthin kommen, damit sie die Musik hautnah erleben können. Das war auch produktiv für die dortigen Musiker und Künstler, weil man durch das Erleben der Schüler das eigene Tun noch mal neu erfährt. Hans Zender kam für ein Konzert mit seinen 33 Veränderungen über 33 Veränderungen nach Freiburg, ich konnte ihn mit Schülerinnen und Schülern treffen – eine ganz berührende Begegnung. Zur Bläsersinfonie von Strawinsky habe ich eine Choreografie gemacht. Auch mit dem Theater und der Musikhochschule haben wir zusammengearbeitet. Ich habe meinen Musikunterricht auf solche Projekte abgestimmt.

Welche Rolle spielt das Sehen in deiner pädagogischen Arbeit?
Hörgeschädigte sind visuell ausgerichtet. Die Hörgeräteversorgung ist inzwischen großartig, gleichwohl bleiben Visualisierung und Sehen wichtige Grundlagen für musikalische Erfahrungen.

Welche Bedeutung hat das Sprechen über Musik?
Das ist ebenfalls wichtig. Wenn man z. B. als Schüler im Orchester sitzt und selbst kein Ins­trument spielt, da überrollen einen die Gefühle. Ich habe oft erlebt, dass Schüler zunächst sagten: „Das ist totaler Mist.“ Und wenn ich dann nachfragte, war es eigentlich eher: „Oh, ich hab plötzlich so komische Bilder gesehen und da kamen so viele Gefühle auf und ich wusste gar nicht, wie ich das alles sortieren soll.“ Sie wurden emotional überwältigt. Deshalb ist es wichtig, darüber ins Gespräch zu kommen und mit Empathie zu reagieren: „Ja, ich kann das so verstehen, da kommen einem die Tränen.“

Wie nehmen Hörgeschädigte Musik wahr? Wie erleben sie Musik? Wie unterscheidet sich ihr Musik-Erleben vom dem unbeeinträchtigter Menschen?
Ich hatte ein sehr interessantes Erlebnis mit einem gehörlosen Schüler, Kind gehörloser Eltern, ohne Hörgeräteversorgung und ohne Cochlea-Implantat damals. Es war die letzte Stunde am Nachmittag, die Sonne schien, ich habe englische Vokabeln vorgelesen und kam ein bisschen ins Reden. Irgendwann sagte ein Schüler: „Guck mal, der Ludwig tanzt.“ Das stimmte. Dieser Schüler konnte nichts von mir hören, er konnte mich nur sehen – aber er tanzte zu meinen Worten. Er nahm mein Sprechen, meine Mimik und Gestik als Impuls wahr, danach zu tanzen. Ich merkte: Wir hören uns vielleicht nicht, aber wir verstehen uns. Mir wurde die Bedeutung des Ausdrucks „wir verstehen uns“ bewusst. Dann dachte ich: Das ist eine Erfahrung, auf der kann ich aufbauen.
Später nahm die Hörgeräteversorgung unglaublich Fahrt auf. Auch Kinder wurden und werden früh implantiert. Bei vielen heutigen gehörgeschädigten Schülern merkt man nicht, dass sie gehörgeschädigt sind. Heute würde ich sagen: Hörgeschädigte genießen Musik wie du und ich. Hören ist immer auch ein Lernprozess. Je mehr wir hören, desto besser, differenzierter hören wir.

Welche Möglichkeiten bietet Musik bei diesem Lernprozess?
Musik bietet besondere Chancen, die frei sind vom Druck der Alltagssituationen. Nehmen wir an, ich sage zu einer hörgeschädigten Schülerin: „Geh bitte ans Fenster, mach es zu und setz dich wieder.“ Versteht sie das falsch, ist gleich zwischenmenschliche Reibung da. Wenn sie sitzen bleibt, missversteht dies die Lehrerin möglicherweise. Bei Musik ist das anders. Ich würde ja nicht fragen: „Hast du richtig gehört oder hast du falsch gehört, oder hast du dies gehört oder jenes gehört?“ Sondern ich frage „Und…?“ Und dann kommen wir ins Gespräch. Denn du hörst etwas anderes als ich und meine Schülerinnen und Schüler hören etwas anderes als du und ich. Es freut mich, wenn sie hinterher sagen können: Das gefällt mir oder das gefällt mir nicht. Dann hat der Unterricht Sinn gehabt.

Auf welche Fähigkeiten in der musikalischen Arbeit mit hörgeschädigten Schülern kommt es besonders an?
Das Wichtigste ist wohl, selbst Spaß an der Sache zu haben. Neugierig sein. Interesse an den Leuten haben. Freude daran, ganz unterschiedliche Menschen zusammenzubringen.

Gibt es besondere Schwierigkeiten?
Keine, die unmittelbar mit der Hörschädigung zusammenhängen. Es sind Jugendliche! Jugendliche in einer Gruppe! Unterricht in der Mittelstufe ist immer Operation am offenen Herzen, und das ohne Narkose.

Wie wirkt deine Arbeit an der Schule in deine sonstige musikpädagogische Arbeit hi­nein? Was hast du gelernt im Umgang mit Hörgeschädigten?
Für mich war Hören immer so selbstverständlich, ich habe mir dazu nie besondere Gedanken gemacht. Als ich damals an die Schule kam, also zur Zeit, als es wirklich noch Gehörlosigkeit gab, fiel mir auf, dass die Schülerinnen und Schüler immer im Kreis standen, um sich zu unterhalten – weil sie sich sehen mussten, um die Mundbewegungen abzunehmen. Im Zusammenhang damit wurde mir bewusst, wie störanfällig Kommunikation ist. Ich lernte, möglichst langsam zu kommunizieren und immer wieder behutsam zu fragen: „Hast du mich verstanden?“ oder auch mich selbst: „Hab ich dich richtig verstanden?“ Kommunikation bedarf fortwährend der Rückversicherung. Dafür brauchen wir Zeit. Dieses Sich-Zeit-Nehmen war für mich gerade am Anfang immer wieder eine wichtige Ausrichtung. „Ich verstehe dich“ ist mehr, als „ich höre dich“.
Einmal gab es eine lustige Situation: Die Klasse stand im Halbkreis und ich stellte mich in die Mitte, damit ich alle Schülerinnen und Schüler wahrnehmen konnte. Aber sie konnten sich nicht mehr gut sehen und über Gebärden verständigen. Da sagte ein Schüler: „Frau Löbbert, gehen Sie mal weg, Sie stehen auf der Leitung!“ Das fand ich sehr aufschlussreich. Danach habe ich mich als Lehrerin oft gefragt: Wann störe ich?

Du bist also in der Arbeit mit Hörgeschädigten für Vorgänge sensibilisiert worden, die in jeder zwischenmenschlichen Kommunikation eine Rolle spielen?
Ja! Außerdem habe ich für mich als Musikerin gelernt, was für eine unglaubliche Ressource Musik ist. Der Komponist Mark Barden, mit dem wir zusammengearbeitet haben, fragte mich einmal: „Woran werde ich merken, dass deine Schüler gehörlos sind?“ Diese Frage gab mir zu denken. Ich würde antworten: Sie reagieren so unmittelbar, so offen und auch so verletzlich auf Musik. Das ist für mich ein großes Geschenk: mir immer wieder klarzumachen, welch eine Kraft Musik sein kann. Sie ist da, sie ist eine anthropologische Kons­tante, wir können sie nutzen. Das hat mich auch als Musikerin neu belebt.

Du verstehst dich als politisch aktive Musikpädagogin. Was bedeutet das für dich?
Wenn ich als Lehrerin agiere, egal ob als Cellolehrerin an der Musikschule, als Privatlehrerin oder als Lehrerin an einer allgemeinbildenden Schule, bewege ich mich immer in einem bildungspolitischen Kontext, in einem System, das von bildungspolitischen Entscheidungen beeinflusst ist. Es gibt keinen „unpolitischen“ Musikunterricht – als Musiklehrerin bin ich immer auch politisch tätig. Und da ich das bin, ist es mir wichtig, dies aktiv zu gestalten – mit allen Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten, die mir zur Verfügung stehen.

Kannst du noch etwas ausführen, was du mit „bildungspolitischem Kontext“ meinst?
Als Musiklehrerin bin ich in einem Schulsystem, das selektiv angelegt ist, das dreigliedrig ist, das zum Beispiel sagt, am Gymnasium ist Musik immer ein Unterrichtsfach, an anderen Schulen kann es leichter ausfallen. An Grundschulen wird Musik zum großen Teil fachfremd unterrichtet. Wer hat Zugang zum Instrumentalunterricht an Musikschulen? Meine kürzlich abgeschlossene Promotion ist entstanden aus der Frage: Warum kommen meine Schülerinnen und Schüler in Stegen nicht an die Musikschule?

Wie verortest du dich über Bildungspolitik hinaus politisch?
Kulturpolitisch war ein starker Impuls für mich, dass das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit dem Rundfunkorchester in Stuttgart fusioniert werden sollte – und leider auch wurde. Ich war eine leidenschaftliche Hörerin dieses SWR-Sinfonieorchesters. Es hatte 1946 von den Alliierten den expliziten Auftrag erhalten, zeitgenössische Musik zum Klingen zu bringen. Als die Orchester 2016 fusionieren sollten, hatte ich zum einen Mühe mit der Rechnung 1 plus 1 gleich 1. Zum anderen war das für mich auch Ausdruck einer Geschichtsvergessenheit – die Avantgarde so leichtfertig zu vernachlässigen und ins Archiv zu verbannen. Daraufhin bin nach Stuttgart zum Referats­leiter für Musik im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport gefahren. Er fragte mich, was ich für ihn tun könne, und ich habe ihm gesagt, was er tun könne. Ich wollte einfach nicht nur duldend musikpädagogisch vor mich hin arbeiten. Daraufhin öffnete sich mein Wirkungsfeld: Ich fuhr zu Tagungen und brachte mich dort bildungs- und kulturpolitisch ein.
Mein musikpädagogischer Alltag an der Schule und darüber hinaus war und ist geprägt nicht zuletzt auch durch die Wahrnehmung von Missständen, deren Überwindung für mich, mein Selbstverständnis und mein Handeln sinnstiftend wurden.

Welche Utopie verbindest du mit Musikunterricht und musikpolitischem Handeln?
Bildungs- und kulturpolitische Arbeit ist wie ein Mobile – ziehst du an dem einen Ende, schwappt das andere in die Höhe. Ich würde mir wünschen, dass mehr unterschiedliche Akteure in Diskussions- und Entscheidungsprozesse für längere Zeiträume als die vier Jahre einer Legislaturperiode mitwirken. Kinder und Jugendliche haben keine Lobby, sie haben nicht die Gelegenheit, sich für ihre Belange einzusetzen. Also frage ich mich: Wer sitzt für sie am Tisch? Ich verstehe mich als ihre Lobbyistin und Fürsprecherin. Ich will mich um die Frage kümmern, welchen Nutzen sie von Musik und Kultur haben – und nicht, welchen Nutzen die Wirtschaft davon hat.

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