Chopin, Frédéric
12 Etüden op. 10 / 24 Préludes op. 28 / 12 Etüden op. 25 für Klavier
Arbeitsausgaben mit Kommentaren von Alfred Cortot
Alfred Cortots „Éditions de travail“ diverser Klavierwerke von Chopin gehören zu den Klassikern einer elaborierten pianistischen Übekultur. Wer der französischen Sprache nicht mächtig ist, konnte aus den minutiösen Erarbeitungsvorschlägen Cortots (1877-1962) bislang nur begrenzt Gewinn ziehen, da dieser seine Übungen ausführlich beschrieben hat und die den Texten beigegebenen Notenbeispiele ohne deren Erläuterungen fragmentarisch bleiben. Von den Arbeitsausgaben der beiden großen Etüdensammlungen und der Préludes hat Sabine Wehr nun eine durchweg gut gelungene deutsche Übersetzung vorgelegt. In der weitgehend wörtlichen Übertragung kommt die Genauigkeit und Eleganz von Cortots Diktion zur Geltung, ohne dass die Nähe zum Original mit sprachlicher Steifheit erkauft wäre.
Die Originalausgaben der cortotschen „Éditions de travail“ erschienen in den Jahren von 1915 bis 1926. Es handelt sich um Dokumente einer früheren Epoche, die dementsprechend historisch zu würdigen sind. In der Vorbemerkung zu den beiden Etüden-Ausgaben schreibt Cortot: „Mit der vorliegenden Arbeitsausgabe wollen wir zwei Ziele zugleich erreichen: einen endgültigen Notentext, befreit von zweifelhaften Traditionen und abergläubisch befolgten Druckfehlern früherer Ausgaben, und eine rationelle Arbeitsmethode auf der Grundlage einer durchdachten Analyse der technischen Schwierigkeiten.“
Das zuerst genannte Ziel können die Ausgaben nicht einlösen, da die Chopin-Forschung philologisch inzwischen auf einem weiter fortgeschrittenen Niveau arbeitet, als es Cortot erreichbar war. Zur übepraktischen Konzeption seiner Arbeitsvorschläge führt Cortot aus: „Das wesentliche Gesetz dieser Methode ist es, nicht die schwierige Passage zu üben, sondern die darin enthaltene Schwierigkeit, indem deren Grundcharakter [„caractère élémentaire“] rekonstruiert wird. Diese Methode kann für das Erarbeiten sämtlicher Klavierliteratur angewandt werden. Sie ersetzt das geistlos-mechanische Wiederholen, das die Ausübung einer sensiblen und intelligenten Kunst entwürdigt, und während sie langsam und statisch zu sein scheint, führt sie sicher zu entscheidenden Fortschritten.“
Ohne Zweifel hat Cortot mit viel Scharfsinn aus Chopins Musik eine Vielzahl von raffinierten Übeweisen abgeleitet. Seine Übungen legen die Strukturen der zahllosen Figurationen und Passagen in Chopins Kompositionen frei. Allerdings bewahren die vielen vorbereitenden Übungen durch ihren engen Bezug auf Chopins Schreibweise keineswegs zwangsläufig vor „geistlos-mechanischem Wiederholen“. (Cortot gibt immer wieder Anweisungen, wie oft bestimmte Formeln wiederholt werden sollen.) Auch das Arbeiten mit Cortots Studien kann leicht zu stumpfsinniger Werkelei führen, indem sie allzu leicht die Aufmerksamkeit des Übenden physiologisch statt musikalisch ausrichten.
In diesem Sinn kritisierte die Pianisten Hélène Grimaud radikal Cortots Konzeption: „Für mich ist diese Methode die beste Art, ein Problem zu schaffen, wo es noch keines gibt, und Schwierigkeiten zu erfinden, bevor sie auftreten. Wenn es tatsächlich eine technische Schwierigkeit gibt, dann ist es gerade der musikalische Kontext, von dem die Cortot-Ausgaben sie isolieren wollen, der hilft, sie zu überwinden. Wenn man weiß, wohin die Phrasierung führt und welche Farben sie benutzt, dann überwindet man die technischen Schwierigkeiten, mit denen die Phrase gespickt sein kann, problemlos.“ (Wolfssonate, München 2005) Ein produktiver Umgang mit Cortots Übepraktiken setzt in jedem Fall die Fähigkeit voraus, die musikalische Imagination auch bei physiologisch konzipiertem Training wachzuhalten.
Ulrich Mahlert