Linde, Hans-Martin

14 Miniaturen

für Sopranblockflöte solo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , Seite 58

Ja, sie heißen Miniaturen, aber als Kleinigkeiten mag man die 14 Stücke, die in diesem Band des Blockflötengroßmeisters Hans-Martin Linde (geb. 1930) veröffentlicht sind, nun wahrlich nicht abtun; im Gegenteil hat die Anwendung der bekannten Redewendung „klein, aber oho“ auf diese Sammlung durchaus ihre Berechtigung.
Keines der Stückchen, die mit Titeln wie Tanzstück, Hin und her, Nachdenkliches Stück, Federleicht, Auf barocke Art oder Nachklang überschrieben sind, ist länger als 25 Takte, aber gerade das macht auch einen Teil ihres Reizes aus: Denn jedes einzelne besitzt einen ganz eigenen Charakter, der auf einer bestimmten Idee basiert. So wie viele zeitgenössische Kompositionen, mag man da sagen. Doch viele zeitgenössische Kompositionen kranken eben gerade daran, dass eine an sich durchaus originelle und schöne Idee so lange ausgewalzt wird, bis sie nicht nur der Dümmste verstanden, sondern selbst der Allerdümmste nicht mehr hören mag. Und seien wir ehrlich: Speziell neue Werke für die Sopranblockflöte, ein Instrument mit vergleichsweise doch eher begrenzten musikalischen Möglichkeiten, zeigen eine gewisse Neigung zu dieser Krankheit. Nicht aber die Linde-Stücke, denn die sind erstens viel zu kurz, um auf die Nerven gehen zu können, und zweitens – und vor allem – viel zu gut geschrieben.
Alle sind sie atonal, wenn auch in unterschiedlichem Maß. So spielt etwa „Aus der Ferne ,Greensleeves‘“ durchaus noch in neckischer Art mit der Tonalität, die aber eben nur aus der Ferne betrachtet wird. Doch in den Nummern, in denen der Hörer harmonisch tatsächlich so gar keinen Anhaltspunkt mehr findet, offeriert ihm Linde ersatzweise z. B. ein sehr klares und wiederkehrendes rhythmisches Modell, eine charakteristische Ton- oder Intervallfolge oder – in einem rhythmisch sehr freien Stück – gar sich wiederholende Haltetöne als Stütze, an der sich der Hörer strukturell entlanghangeln kann.
Die technischen Ansprüche an den Spieler oder die Spielerin sind dabei naturgemäß je nach Stück und Tempo recht unterschiedlich, doch für AnfängerInnen ist sicherlich keine der Nummern geeignet. Zwar helfen die sehr detaillierten Angaben hinsichtlich Tempi, Charakter, Artikulation, Dynamik und Agogik dem Interpreten, die Kompositionen für sich zu erschließen, doch stellen sie gleichzeitig Ansprüche, für die nicht nur ein gewisses technisches Können vorauszusetzen ist, sondern auch ein musikalisches Verständnis des Gemeinten. Dazu kommt, dass Linde den (noch klangschönen) Ambitus der Sopranblockflöte voll ausnutzt, vor allem aber – wie im atonalen Bereich nicht anders zu erwarten – auch mit Vorzeichen nicht spart.
So kann man diese Stücke einerseits als gewinnbringende musikalische Herausforderung einordnen, doch gerade im Unterricht können sie durchaus auch zur Einübung von selten verwendeten Griffen und ganz sicher zum Training interpretatorischer Vielfalt dienlich sein.
Andrea Braun