Bartók, Béla
15 Ungarische Bauernlieder
für Klavier
Béla Bartók war zusammen mit Zoltán Kodály der erste, der in Ungarn Volksmusikforschung betrieb und mit dem Fonografen durchs Land reiste, um den Schatz an Liedgut und Tanzweisen der bäuerlichen Bevölkerung zu dokumentieren. Aus Melodieaufzeichnungen, die zwischen 1910 und 1912 entstanden, entwickelte Bartók in den Jahren 1914 bis 1918 in mehreren Etappen seinen die Originale raffiniert harmonisierenden Klavierzyklus 15 Ungarische Bauernlieder, der sich wiederum in mehrere Abteilungen untergliedert: die direkt aneinander anschließenden Vier alten Weisen, ein Scherzo, die berühmte 7/8-Takt-Ballade nebst Variationen und schließlich eine Gruppe von Alten Tanzweisen.
Den Titel des Werks rechtfertigte Bartók mit folgendem Kommentar: „Diese Lieder werden von der Herren- und Bürgerklasse nicht gesungen, sind sogar derselben meistenteils unbekannt… Beigefügt sei, dass diese Lieder Schöpfungen der Bauern ungarischer Nationalität und den Nachbarvölkern gänzlich unbekannt sind.“
Die Neuausgabe der 15 Ungarischen Bauernlieder in der Urtextedition des Henle-Verlags ist dem in Vorbereitung befindlichen Band der Bartók-Gesamtausgabe entnommen. Vom geänderten Druckbild abgesehen zeigt der Notentext keine gravierenden Abweichungen gegenüber der Erstausgabe bei der Universal Edition aus dem Jahr 1920. Man findet nur einige die Spielpraxis erleichternde Änderungen in der Notation: einmal eine „ottava“-Versetzung, um extrem tiefe Noten leichter lesbar zu machen, und häufig ergänzende Vor- und Auflösungszeichen, um harmonische Irrtümer beim Interpreten auszuschließen. Hilfreich sind auch die beigefügten Fingersätze von Dénes Várjon, zumal dort, wo Bartók sehr weitgriffige Akkorde fordert.
Lesenswert ist das instruktive Vorwort des Herausgebers, des renommierten Bartók-Forschers László Somfai, der die vergleichsweise langwierige Entstehungsgeschichte der 15 Ungarischen Bauernlieder beschreibt. Erfreulich ist es weiterhin, dass der Spieler am Schluss des Bandes ein Verzeichnis der von Bartók arrangierten Melodien und der zugehörigen, überwiegend humoristischen Texte erhält.
Wissenschaftlichen Standards entspricht die Beschreibung der benutzten schriftlichen und gedruckten Quellen, zu denen bei diesem Werk zusätzlich Aufnahmen einzelner Stücke hinzukommen, die der Komponist in den Jahren 1927 und 1936 auf Welte-Mignon-Rollen bzw. Schallplatten hinterließ. Aus ihnen ergeben sich teils stark abweichende Tempi gegenüber den Metronomangaben in der Erstedition, die dem Spieler von heute einen Fingerzeig geben können: Man darf sie als eine nicht schriftlich fixierte, aber durch die Konzertpraxis entstandene revidierte Fassung der ursprünglichen Tempovorstellung des Komponisten werten.
Gerhard Dietel