Widmaier, Martin

24 achttaktige Etüden

nach Frédéric Chopin

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Peters, Frankfurt am Main 2012
erschienen in: üben & musizieren 4/2013 , Seite 59

Nur schwer lassen sich im beengten Rahmen einer Rezension alle Facetten dieses fabelhaften Bandes andeuten. Martin Widmaier hat, angeregt von Czernys achttaktigen Übungen op. 821 und den instruktiven Ausgaben der Chopin-Etüden von Alfred Cortot und Ignaz Friedman, jede der 24 Etüden zu einem achttaktigen Modell komprimiert und dieses dann jeweils mit Übungsvorschlägen versehen.
So einfach das Prinzip erscheint, so komplex und fantasievoll sind die angegebenen Übungsvarianten. Hier wird ein Konzept von musizierendem Üben gezeigt, bei dem die Erfahrungen des Autors aus seinen verschiedenen Ar­beitsgebieten als Pianist, Komponist, Improvisator, Pädagoge und Professor für Klaviermethodik zusammengeführt wurden. Außerdem erwähnt Martin Widmaier die Methode des Differenziellen Lernens, die er von dem Sportwissenschaftler Wolfgang Schöllhorn übernommen und für musikalische Lernprozesse nutzbar gemacht hat.
Entsprechend sind die hier zu findenden Varianten nicht einfach nur rhythmischer, dynamischer oder artikulatorischer Art, obwohl auch das vorkommt. Von zentraler Bedeutung sind Übungen, mit deren Hilfe die Spezifik des jeweiligen Tonsatzes erforscht werden kann. Der Spieler lernt, dessen Elemente auf den verschiedenen hierarchischen Ebenen zu identifizieren und mit­einander in Beziehung zu setzten. Durch diese gedankliche und gehörsmäßige Klarheit und Wachheit wird die technische Realisierung wesentlich erleichtert, vielleicht überhaupt erst möglich gemacht. Darüber hinaus werden auch unterschiedliche Fingersätze ausprobiert, harmonische Modelle transponiert, „Ausflüge“ zu anderen Komponisten unternommen und vor allem immer wieder kleine Improvisationen über Elemente aus den Etüden versucht.
Während es beim Üben der Varianten aus den Editions de travail von Cortot durchaus vorkommen kann, dass man mit den Gedanken abschweift, da nach erstem Kennenlernen manche Übungen mechanisch ablaufen können, ist das im vorliegenden Fall nicht mög­lich. Hier geht es nie um Training durch vielfache Wiederholung gleichbleibender Muster, sondern um geistige und körperliche Beweglichkeit, die im Endeffekt dann auch das Spielen der Chopin-Etüden ermöglicht.
Abgerundet wird der zweisprachig (deutsch, englisch) gehaltene Band durch eine Übersicht aller gängigen Übungsvarianten, eine Anleitung zum Tonleiter- und Arpeggienspiel sowie einen Ausschnitt aus einem Artikel des Verfassers über das Differenzielle Lernen. Die auf den ersten Blick humorig erscheinende Bemerkung des Autors aus dem Vorwort, dass diese Übungen für jene seien, die die Chopin-Etüden studieren, und für jene, die sie nicht studieren wollen, erhält einen tieferen Sinn, wenn man versteht, dass es sich hier um ­eine grundlegende Anleitung für das Üben von Musik handelt. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass die schlanke Form (jede Etüde nimmt zusammen mit den Übungsvarianten genau zwei Seiten ein) einen besonderen Charme hat.
Linde Großmann