© Jugendakademie Münster

Rademacher, Ulrich

Individuell und wertschätzend

Die Jugendakademie Münster als Beispiel gelungener Begabtenförderung

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Die Begabungsforschung und Betrachtungen von Musikerbiografien legen nahe, dass jungen Talenten möglichst früh eine handwerklich optimale Förderung am Instrument zugutekommen sollte. Außerdem ist es wichtig, ihnen ein künstlerisch anregendes Umfeld zu bieten. Andererseits zeigt die Erfahrung aber auch, dass es mittlerweile eine große Zahl bestausgebildeter junger Musikerinnen und Musiker gibt, die in ihrer allgemeinen, menschlichen und künstlerischen Entwicklung weit hinter ihren handwerklichen Fähigkeiten zurückgeblieben sind.

Viele junge Talente müssen während ihres Hochschulstudiums feststellen, dass sie in ihrem Leben außer Disziplin und Konkurrenzstress nichts erlebt haben, was sich lohnen würde, mit den Mitteln der Musik zu erzählen. Sie erfahren, dass Familie, Spaß und Auseinandersetzung mit Freunden, schulisches Umfeld, Liebesleben, Chorsingen, Kammermusik, Orchester und prägende menschliche Begegnungen auf der Strecke geblieben sind.
Familien, Musikschulen, Hochschulen, Ver­anstalter von Wettbewerben und Förderer müssen darauf achten, dass sie nicht ein handwerklich hochgezüchtetes Mittelmaß produzieren, das weder charismatisch interessante Künstler auf dem Podium hervorbringt, noch ansteckende, erfolgreiche, zufriedene und verantwortungsvolle Musikpädagogen ins Leben entlässt. Das bedeutet: Wir müssen besonders begabten Kindern die Chance geben, eine optimale musikalische Förderung zu genießen, die in ein „normales“ Leben mit Familie, Freunden, Sport, Schule etc. eingebettet ist, eine Förderung, der eine gesunde soziale Entwicklung nicht geopfert wird. Eine Förderung ohne Entwurzelung, die im Nachhinein auch dann Sinn macht, wenn sich ein junger Mensch beruflich völlig anders orien­tiert. Dieses Ziel ist in Kooperationen von Musikhochschulen und Musikschulen, die den Nachwuchs der Region im Blick haben, besser zu erreichen als in Alleingängen von Musikhochschulen, in denen Kinder oft aus ihrem natürlichen Umfeld herausgerissen und in einer Retortensituation „gezüchtet“ werden.

Wertschätzende Förderung

Als Vorsitzender einer Bundesjury in der vergangenen „Jugend musiziert“-Saison ha­be ich etwa 100 Pianistinnen und Pianisten der Altersgruppe IV (14 bis 15 Jahre) gehört: die meisten von ihnen pianistisch sehr gut, aber auch manche, um deren Zukunft und seelische Gesundheit man sich sorgen muss, wenn alle Energie und Motivation aus einer allzu engen Fokussierung auf eine Solo-Karriere geschöpft wird.
Auf der einen Seite entzieht sich die Kunst, die ihrem Wesen nach genauso „heilig“, einmalig und unverwechselbar ist wie jedes musizierende Kind, einer Bewertung und Einordnung nach Punkten. Auf der anderen Seite liegt es in unserem Streben nach Erkenntnis und Vergleichbarkeit, aber auch in der kindlichen Spiellust, sich messen zu wollen – nicht nur im Sport. Das ist nach meiner Überzeugung solange gesund, wie das Selbstwertgefühl, das Geliebt- und Geachtetwerden so selbstverständlich und unverrückbar verankert ist, dass es nicht vom Erfolg bei einem Wettbewerb abhängt.
Der Chorleiter und Pädagoge Yoshihisa Matthias Kinoshita schreibt: „Aus dem Erleben der eigenen Freude und aus dem Erleben, dass diese auch Anerkennung findet und mit anderen geteilt werden kann, verstärkt sich die schon vorhandene Motiva­tion bei den Kindern fürs Singen. Durch ei­ne Beziehungsebene, in der die grundsätzliche Anerkennung vom Erbringen einer Leistung abgekoppelt ist, wird ein stabiles Beziehungsfundament gelegt. Stabil vor allem auch deswegen, weil durch die Entkopplung von Anerkennung und Leistung die Angst vor dem Versagen als ein wesentlicher Verhinderer von Motivation so gut es geht vermieden werden kann.“1
Der Verband deutscher Musikschulen favorisiert diejenigen Modelle der Begabtenförderung, die den begabten Kindern und Jugendlichen ein Weiterleben mit Familie und Freunden und „normalen“ Alltags­herausforderungen gestatten und dennoch alle Ressourcen für eine optimale Förderung erschließen – beispielsweise die young aca­demy rostock,2 das Netzwerk Amadé in Mannheim3 oder die Jugendakademie in Münster.4 Letztere möchte ich hier vorstellen – als ein Beispiel gelingender Kooperation zum Wohle besonders begabter Kinder und Jugendlicher.

Individuelles Angebot

Nach mehreren Jahren intensiver, vertrauensvoller und wertschätzender Zusammen­arbeit einzelner Lehrkräfte der Westfälischen Schule für Musik und der Musikhochschule Münster mit hochbegabten Kin­dern und Jugendlichen fand im Februar 2011 die erste offizielle Aufnahmeprüfung statt. Die Akademie bietet als Option folgendes Ausbildungspaket für bis zu 30 Akademisten:
– zwei Unterrichtseinheiten im Hauptfach (90 Minuten),
– eine Unterrichtseinheit im Zweitfach,
– Ensemblespiel, Kammermusik, Orchester, Gesang, Körperdisposition, Theorie,
– bei Bedarf Korrepetition,
– gemeinsame Konzert- und Opernbesuche,
– Begegnung mit prominenten Künstlern,
– Vermittlung von und Begleitung bei Wett­bewerben und Meisterkursen.
Das kann für manches Kind angemessen sein, für ein anderes eine gesundheitsgefährdende Überforderung. Daher ist entscheidend, dass die Musikhochschule und die Partner-Musikschule gemeinsam empfehlen, welches ganz persönliche Unterrichtspaket für das jeweilige Kind in seiner schulischen, persönlichen und künstlerischen Entwicklung adäquat ist. Dazu gehört auch, welcher Lehrer, welche Lehrerin bzw. welches Pädagogentandem aus Musikschule und Musikhochschule den Unterricht im Hauptfach übernimmt. Dies alles geschieht in enger Abstimmung mit Eltern und allgemein bildenden Schulen, damit die Kinder in einer gesunden familiären und schulischen Umgebung aufwachsen – auch mit Freizeitaktivitäten und der Möglichkeit der Pflege von Freundschaften.
Dies schließt auch so verrückte, aber hoch motivierende Aktionen mit ein, wie sie eine der jüngsten Akademistinnen erleben durfte: in China mit Lang Lang Duo zu spielen. Oder in einem Kleinbus zu einer Probe des Bundesjugendorchesters mit Simon Rattle nach Berlin zu fahren. Einen Workshop für Neue Musik zu erleben, an einem deutsch-japanischen Jugendaustausch teilzunehmen, als Solist zur Eröffnung des Bundeswettbewerbs „Jugend mu­siziert“ in Lübeck mit dem städtischen Sinfonieorchester ein Mozart-Konzert zu spielen, ein gemeinsames Sommer-Gartenfest aller Akademisten und vieler Lehrkräfte zu feiern, als Klaviertrio beim Sommerfest des Bundespräsidenten auftreten zu dürfen und vieles mehr: Dies sind nur einige von vielen schönen und inspirierende Mosaiksteinen, die den Unterricht motivierend ergänzen.

Zusammenarbeit mit der Schule

Um musikalische Schwerpunkte setzen zu können, arbeitet die Akademie vor allem mit solchen allgemein bildenden Schulen zusammen, die besonders begabten Kindern und Jugendlichen die notwendigen Freiräume zugestehen. Dabei kann es sich um die Freistellung vom Unterricht für die Wahrnehmung einer Hauptfach-Stunde am Vormittag handeln (möglichst nach dem „Drehtür-Modell“, damit nicht immer die selbe Schulstunde ausfällt) oder auch um die Befreiung für mehrere Tage zugunsten eines Meisterkurses, einer Wettbewerbsteilnahme oder Konzertreise. Die Jugendakademie kann nur parallel zum Besuch einer allgemein bildenden Schule besucht werden. Das bedeutet auch: Den Schulabschluss aufzugeben für eine hundertprozentige Konzentration auf die Musikerkarriere wird ausdrücklich ausgeschlossen. Die an der Hochschule belegten Kurse können bei einem späteren Musikstudium angerechnet werden.
So wichtig die gemeinsame Federführung zweier erfolgreicher Institute für das Gelingen der Akademie ist, so wichtig ist eine gute Kooperation mit den Musikschulen der Region. So sind alle Familien und Musikschulen im Raum Westfalen eingeladen, sich in Sachen Begabtenförderung an die Jugendakademie zu wenden – und zwar ohne Sorge um den Verlust erfolgreicher Schülerinnen und Schüler, denn diese bleiben in der Regel an der jeweiligen Musikschule. Es ist ausdrücklich vorgesehen, mit den Instrumentalpädagoginnen und -pädagogen vor Ort zusammenzuarbeiten und sie weiter mit der Betreuung zu beauftragen, um eine von Vertrauen geprägte Entwicklung zu ermög­lichen.
Und: Bei allem Verständnis für die besondere Bedeutung des künstlerischen Hauptfachs und die dadurch entstehende Motivation sollte den Kindern und Jugendlichen das gesamte Spektrum der Musikberufe als attraktive Perspektive vermittelt werden. Denn erfolgreich Musiker zu sein, kennt weit mehr Variationen als nur die Solistenkarriere.

1 Yoshihisa Matthias Kinoshita: „Ausüben – mehr als richtig singen. Dressur versus lebendiges Mu­sizieren, Motivation und Konzertvorbereitung“, in: Michael Fuchs (Hg.): Hören, Wahrnehmen, (Aus-)Üben (= Kinder- und Jugendstimme, Band 3), Logos, Berlin 2009, S. 157 ff., hier: S. 160.
2 Die young academy rostock (YARO) ist eine Ein­richtung der Hochschule für Musik und Theater Rostock; www.young-academy-rostock.de
3 Im Jahr 2004 gründete die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim gemeinsam mit acht Musikschulen der Metropolregion Rhein-Neckar das Netzwerk Amadé; www.muho-mannheim.de/frame.php?path=/wirueberuns/amade
4 Die Jugendakademie hat sich unter gemeinsamer Federführung der Musikhochschule Münster und der Westfälischen Schule für Musik konstituiert; www.uni-muenster.de/Musikhochschule/ jugendakademie