Günster, Anne
40 Jahre üben & musizieren
Spannungsfelder musikpädagogischer Diskussionen im Spiegel einer Fachzeitschrift
Welche Themen werden in der Zeitschrift „üben & musizieren“ wiederholt aufgegriffen und wie verändert sich ihre Diskussion innerhalb von 40 Jahren? Eine kleine diskursanalytische Untersuchung aller Editorials der Zeitschrift von 1983 bis 2023 arbeitet zwei zentrale thematische Spannungsfelder heraus, die für die musikpädagogische Fachdiskussion auch in Zukunft bedeutsam sein können: Wie werden musikpädagogisch Lehrende ausgebildet? Und wie wird Musik(pädagogik) gelehrt und gelernt?
Gegenstand der diskursanalytischen Untersuchung1 waren 210 Editorials der Zeitschrift üben & musizieren im Zeitraum von 1983 bis 2023. Leitende Fragen der Dokumentenanalyse waren: Welche Themen werden in den Editorials wiederholt aufgegriffen und wie werden sie diskutiert? Wie verändert sich die Diskussion der Themen über 40 Jahre?
Als Textsorte erfüllen Editorials von Fachzeitschriften spezifische Funktionen: Sie werden häufig, wie auch im Fall von üben & musizieren, von einem kleinen Kreis von AutorInnen (in der Regel von den HerausgeberInnen) verfasst. Sie können eine Einführung in das jeweilige Heftthema bieten, aber auch aktuelle Diskussionen innerhalb der Fachcommunity aufgreifen und kommentieren. Editorials eignen sich als Datenmaterial für Diskursanalysen, welche auf die Untersuchung von übergreifenden Bedeutungszusammenhängen und -mustern innerhalb von (fachspezifischen) Diskussionen über einen längeren Zeitraum abzielen.
Ergebnisse der Analyse
In der Analyse wurden zwei zentrale thematische Spannungsfelder herausgearbeitet: Wie werden musikpädagogisch Lehrende ausgebildet? (Spannungsfeld Ausbildung und Berufspraxis), wie wird Musik(pädagogik) gelehrt und gelernt? (Spannungsfeld Meisterlehre und Autodidaktik). Diese thematischen Spannungsfelder fungieren als diskursive Knotenpunkte, an denen sich wiederholt als musikpädagogisch relevant markierte Fragestellungen, Herausforderungen und Verhältnisbestimmungen kreuzen.
Wie werden musikpädagogisch Lehrende ausgebildet?
In den Editorials der 1980er Jahre erscheinen die musikpädagogische Hochschulausbildung und Berufspraxis als Parallelwelten, die „nur lose miteinander zusammenhängen“.2 Musik(hoch)schulen „existier[t]en nebeneinander“,3 wobei vor allem kritisiert wird, dass die Hochschulen „die Bedürfnisse und Wünsche der Musikschulen zu wenig berücksichtig[t]en“.4 Als Konsequenz daraus werden Musik(schul)lehrende aufgefordert, „ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen: in Pionierarbeit brachliegende musikpädagogische Felder zu beackern, ohne das Know-how dazu von den Hochschulen erhalten zu haben“.5
In den 1990er Jahren kommt es zu einer veränderten Verhältnisbestimmung: Zwar wird weiterhin eine Lücke zwischen musikpädagogischer Ausbildung und Berufspraxis moniert. Ergänzend wird die Wichtigkeit einer „Wahrnehmung, Reflexion und Relativierung der eigenen Musizierimpulse, -ideale und musikalischen Erlebnisweisen“6 als Ausbildungsziel benannt. Die musikpädagogische Hochschulausbildung solle insbesondere eine Reflexion der eigenen musikbezogenen Lehr-Lern-Biografie ermöglichen: „Unterrichten lernen beginnt mit Selbsterkenntnis. Die musikpädagogische Ausbildung sollte diese Einsicht immer wieder zur Grundlage ihrer Bemühungen machen.“7
Die Betonung der Wichtigkeit einer reflexiven Selbsterkundung während des Hochschulstudiums wird im Laufe der 2010er Jahre erweitert um den Anspruch an MusikpädagogInnen, ihre musikalischen und pädagogischen Fähigkeiten im Verlauf ihrer Berufspraxis fortwährend weiterzuentwickeln: „Das Wort ‚Ausbildung‘ verleitet leicht zu einem Irrtum: zur Vorstellung, Lernen könne zu einem Abschluss kommen. Studienabsolventen würden dann mit ihrem Zeugnis eine amtliche Bestätigung erhalten, dass sie nun vollständig und befriedigend für ihren Beruf gerüstet sind. Wir wissen, dass diese Vorstellung unhaltbar ist. […] Vor allem […] ergibt es sich daraus, dass nicht alle für den Beruf wichtigen Qualitäten im Vorhinein, vor der eigentlichen Berufspraxis, erlernt werden können.“8
Eine Hypothese für diese diskursive Verschiebung der Diskussion rund um das Spannungsfeld Ausbildung und Berufspraxis innerhalb von 40 Jahren könnte lauten: In dem Maße, wie sich Instrumental-, Gesangs- und Elementare Musikpädagogik seit den 1980er Jahren als Teildisziplinen der Musikpädagogik neben der Schulmusikpädagogik zunehmend behaupten können und entsprechende musikpädagogische Studienangebote mit spezifisch ausdifferenzierten Zielsetzungen institutionalisiert werden, entsteht diskursiv ein Freiraum, um Ausbildung und Berufspraxis nicht ausschließlich als Parallelwelten zu thematisieren, sondern die Relevanz einer musikpädagogischen Ausbildung zunehmend unter den Aspekten der Selbstreflexion und des lebenslangen Weiterlernens der musikpädagogisch Lehrenden zu diskutieren.
Wie wird Musik(pädagogik) gelehrt und gelernt?
Die Betonung der Wichtigkeit des lebenslangen Dazu- und Weiterlernens von MusikpädagogInnen wird innerhalb der Editorials auch in Zusammenhang damit diskutiert, dass für den künstlerischen Unterricht an Musikhochschulen die sogenannte „Meisterlehre“ als musikdidaktische Vermittlungsform dominiere. Die Meisterlehre wird in ihrer konkreten Ausgestaltung innerhalb der Editorials von 1983 bis 2023 durchaus multiperspektivisch betrachtet, hinterfragt und (neu) definiert. Dass sie als dominante Vermittlungsform an Musikhochschulen implizit wie explizit das musikalische und musikpädagogische Lernen der Studierenden nachhaltig präge, stellt allerdings eine Konstante der Diskussion von den 1980ern bis heute dar.
Bezüglich des Umgangs mit dieser Tatsache wird wiederum die Wichtigkeit der Selbstreflexion von Musik(schul)lehrenden insbesondere nach dem Studienabschluss betont: „Besonders wichtig erscheint mir die Überlegung, wie die hochschulisch empfangene Meisterlehre in der späteren, in der Regel nicht an Hochschulen stattfindenden Lehrtätigkeit weiterwirkt. Darüber nachzudenken bedeutet für alle, die an Musikschulen oder privat unterrichten, ein wichtiges Stück Selbstreflexion.“9 In den Editorials wird über 40 Jahre hinweg wiederholt die Wichtigkeit einer selbstreflexiven ,Gegenbewegung‘ zu den hochschulischen Lernerfahrungen der Meisterlehre betont: Diese Selbstreflexion wird vor allem mit dem Anspruch verbunden, sich selbst zu einer guten Lehrperson zu werden. Dieser Anspruch wird über die Jahre hinweg unterschiedlich ausdifferenziert: Lehrende sollten das von ihnen beabsichtigte pädagogische Verhältnis zu ihren SchülerInnen immer wieder mit dem tatsächlich vorhandenen abgleichen.10 Studierende sollten sich frühzeitig von den Vorstellungen ihrer künstlerisch Lehrenden emanzipieren und zunehmend einen Teil der Verantwortung für ihre individuelle künstlerische Entwicklung selbst übernehmen.11 Lehrende sollten dem Wunsch ihrer SchülerInnen nach einem autodidaktischen, selbstgesteuerten Lernen im Unterricht Raum geben.12
Insgesamt erscheint die an Hochschulen praktizierte künstlerische Meisterlehre über 40 Jahre als Konstante der musikpädagogischen Diskussion innerhalb der Editorials. Damit wird die Meisterlehre diskursiv allerdings auch als selbstverständliche Tatsache reproduziert, und sei es nur durch den Anspruch, ihre musikpädagogischen Auswirkungen kritisch zu hinterfragen. Diskursiv produktiv wird demgegenüber der Anspruch an MusikpädagogInnen, sich selbst gegenüber zur Lehrperson zu werden.
Fazit und Ausblick
Die diskursanalytische Untersuchung aller Editorials in üben & musizieren von 1983 bis 2023 deutet an, dass musikpädagogische Fachdiskussionen sich – zumindest im Rahmen dieser Zeitschrift – nicht (nur) chronologisch fortschreitend entwickeln, sondern vielmehr mäandernd verlaufen und von thematischen Brüchen, Kontinuitäten und Gegenbewegungen geprägt sind. Die (diskursanalytische) Beforschung von musikpädagogischen Fachzeitschriften birgt die Chance, zu einer disziplinären Standortbestimmung beizutragen sowie blinde Flecke und Entwicklungspotenziale der fachspezifischen Diskussionen aufzuzeigen und somit zu einer Selbstreflexion der musikpädagogischen (scientific) Community beizutragen.
1 Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der Darstellung der Untersuchungsergebnisse. Auf die theoretisch-methodologischen Grundlagen der Diskursanalyse als Forschungsansatz kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu ausführlich Günster, Anne: Singende Subjekte produzieren. Eine diskursanalytische Studie zu Wissensordnungen und Regierungspraktiken in musikdidaktischen Zeitschriftenartikeln über das Singen im Musikunterricht, Münster 2023, https://doi.org/10.31244/9783830996958 (Stand: 3.9.2024).
2 Mahlert, Ulrich: „Editorial“, in: üben & musizieren, 2. Jg., 1985, Heft 2, S. 75.
3 Mahlert, Ulrich: „Editorial: Reformen von unten“, in: üben & musizieren, 6. Jg., 1989, Heft 3, S. 150.
4 ebd.
5 ebd.
6 Mahlert, Ulrich: „Editorial: Wozu Musikpädagogik?“, in: üben & musizieren, 14. Jg., 1997, Heft 2, S. 1.
7 ebd.
8 Mahlert, Ulrich: „Editorial: Fortbildung“, in: üben & musizieren, 30. Jg., 2013, Heft 3, S. 1.
9 Mahlert, Ulrich: „Editorial: Meisterlehre“, in: üben & musizieren, 29. Jg., 2012, Heft 3, S. 1.
10 vgl. Mahlert, Ulrich: „Editorial: ‚Meister‘-hafte Lehrer“, in: üben & musizieren, 5. Jg., 1988, Heft 2, S. 83.
11 vgl. von Gutzeit, Reinhart: „Editorial: Autodidaktik“, in: üben & musizieren, 24. Jg., 2007, Heft 4, S. 1.
12 vgl. Mahlert, Ulrich: „Editorial: Autodidaktik“, in: üben & musizieren, 39. Jg., 2022, Heft 3, S. 1.
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