Busch, Barbara

Abwesend – und doch immer dabei

Gespräch mit Rainer Klaas über „(statt) BEETHOVEN“ – eine Konzertreihe, die im Herbst 2020 im Ruhrgebiet stattfand

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2021 , Seite 44

Im Jahr 2020 wurde der 250. Geburtstag eines der bekanntesten und meistgespielten Komponisten gefeiert: Ludwig van Beethoven. Die Deutsche Post widmete dem Jubilar eine Briefmarke, zahlreiche Feuilletons beschäftigten sich mit ihm, der Buchmarkt reagierte mit Neuerscheinungen und vielerorts erklangen einmal mehr seine Werke. Anders in Recklinghausen und Gelsenkirchen: Von September bis November 2020 wurden neun Konzerte Beethoven gewidmet – doch keine einzige seiner Kompositionen erklang in diesem Rahmen.

Lieber Herr Klaas, gemeinsam mit Michael Em Walter haben Sie die Konzeption für das Kammermusik-Programm entwickelt. Was verbirgt sich hinter dem von Ihnen gewählten Motto „(statt) BEETHOVEN“?
Es handelte sich tatsächlich um ein Programm, das auf Originalwerke von Beethoven völlig verzichtete. Dabei ging es aber in keiner Weise gegen Beethoven: Die Konzerte beleuchteten die Wirkungsgeschichte Beethovens – von seinen Zeitgenossen Haydn und Mozart an über die Romantik und frühe Moderne bis zum heutigen Tag. Eine riesige, neunteilige Hommage an den Jubilar. Da Beethoven jahrein, jahraus tausendfach aufgeführt wird, konnte man im Jubiläumsjahr meiner Überzeugung nach nicht einfach das ewig Gleiche noch multiplizieren.

Was sofort auffällt, sind die Uraufführungen in jedem der neun Konzerte. Erhielten die Komponisten hierbei Auflagen, sich kompositorisch Beethoven aus heutiger Sicht zu nähern oder seine Themen zu verarbeiten?
Vorgaben hatten wir nur hinsichtlich der kammermusikalischen Besetzung gemacht und bezüglich der Dauer, die meist bei etwa zehn Minuten lag. Die Bochumer Komponistin Julia Rhode und die acht weiteren Komponisten, überwiegend aus Nordrhein-Westfalen, wussten allerdings, in welches historische Umfeld ihr Stück gestellt wird, ob also der Hauptkomponist Moscheles, Schubert, Schumann, Alkan, Brahms, Rachmaninow, Bartók oder Schostakowitsch heißt.
Der Bochumer Stefan Heucke beispielsweise hat sein neues Streichquartett Konsonanzenquartett genannt und dadurch Bezug auf Mozarts Dissonanzenquartett genommen. Der Lüdenscheider Frank Zabel hat eine große zweiklavierige Fantasie Erstarrte Tänze über das Allegretto aus Beethovens 7. Sinfonie verfasst, der Düsseldorfer Thomas Blomenkamp zitiert in einem Klavierstück den Trauermarsch aus Beethovens Sonate op. 26, der 22-jährige Gelsenkirchener Marc L. Vogler nennt sein neues Klavierstück recht beethoven-afin zorn. Andere Komponisten wie der Dortmunder Johannes Marks, der Münsteraner Ulrich Schultheiß oder der Gelsenkirchener Michael Em Walter haben sich mehr atmosphärisch eingebracht, ohne ausdrücklichen Bezug auf Beethoven oder die Wiener Klassik.

Welche Veranstalter bzw. Geldgeber hatten sich für dieses Projekt zusammengetan und es ermöglicht?
Träger waren die Nachbarstädte Gelsenkirchen und Recklinghausen mit ihren seit vielen Jahren eingeführten Konzertzyklen „Musik erzählt…“, „DEBUT UM 11“ und „integ­ral::musik“, als freier Träger der Evange­lische Kirchenkreis Gelsenkirchen/Wattenscheid und, als entscheidender Förderer, die Kulturstiftung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.

Das sind starke Akzente auf dem Ruhrgebiet bzw. auf Westfalen. Inwiefern verbarg sich dahinter eine regional- bzw. kulturpolitische Zielrichtung?
Selbstverständlich waren das keine Zufälle. Seit dem Kulturhauptstadtjahr RUHR.2010 gibt es im Ruhrgebiet den Anspruch, unter den vielen Städten kulturell verstärkt zusammenzuarbeiten. Das funktioniert im Museumsbereich inzwischen recht gut, im Musikbereich kam es bislang nur selten zu konkreten Kooperationen, weil das sprichwörtliche Kirchturmsdenken keineswegs ausgestorben ist – oder aber weil es schlicht an Ideen oder Realisationsmöglichkeiten fehlt.

Zurück zu „(statt) BEETHOVEN“: Waren alle Interpretinnen und Interpreten ebenfalls nordrhein-westfälischer Herkunft?
Weil das Budget keine großen Sprünge zuließ, hatten wir uns auf meist jüngere Künstlerinnen und Künstler konzentriert, die noch am Konzertabend nach Hause fahren konnten, also aus der Großregion stammten. Allerdings gab es auch wichtige Ausnahmen, zum Beispiel die Berliner Pianistin Schaghajegh Nosrati oder den aus Karlsruhe zu seiner Uraufführung Die Anbetung der Farbe angereisten Komponisten Boris Yoffe.

Welche Auswirkungen hatten die Corona-Beschränkungen auf die Durchführung des Konzertzyklus gehabt? Konnten überhaupt alle Konzerte stattfinden?
Bis Dezember 2020 haben nur fünf Konzert stattfinden können, nämlich in den „glücklichen“ Monaten September und Oktober, in denen zwar strenge Abstände, Anmelde- und Maskenpflicht unvermeidlich waren, aber immerhin noch konzertiert werden durfte. Es gibt allerdings die feste Absicht von allen beteiligten Organisatoren, die ausstehenden Konzerte im Frühsommer 2021 nachzuholen.

Zum Konzertzyklus haben Sie ein umfangreiches Programmbuch vorgelegt. Besonders bemerkenswert erscheint mir die „Annographie“ – Anmerkungen rund um die Lebenszeit Beethovens und seiner Rezeption von seiner Geburt bis in die Gegenwart…
Das relativ ausführliche Programmbuch erlaubt es, manche komplizierteren musikgeschichtlichen Zusammenhänge für weitergehend interessierte Hörer in schriftlicher Form festzuhalten. Das hat den Vorteil, dass man sich bei den Programm-Moderationen auf wenige Stichpunkte konzentrieren, den anwesenden Uraufführungskomponisten recht locker interviewen kann und überhaupt eher die feuilletonistische, unterhaltsame Seite in den Vordergrund stellen kann – wir wollten dem Publikum ja nicht das Gefühl vermitteln, in einem musikgeschichtlichen Seminar zu sitzen. Die angesprochene „Annographie“, die von 1770 bis 2020 Jahr für Jahr mindestens einen Beethoven-Aspekt herausstellt – Konzerte, Kompositionen, Einspielungen, Bücher etc. –, soll die Hörerinnen und Hörer lesend auf den Geschmack bringen, sich auch weiterhin mit Beethoven, aber eben nicht nur mit Beethoven zu beschäftigen.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2021.