Erben, Eva

Ach, wie gut, dass niemand weiß…

Märchen als „Zaubermittel“ auf dem Weg zum ausdrucksvollen Klavierspiel

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Seite 28

Im instrumentalen Anfangsunter­richt sind Märchen ein fabelhaftes Mittel, um insbesondere Kinder anzuregen, so zu spielen, dass „einem das Herz ­aufgeht“. Um die besondere Bedeutung von Märchen für die kindliche Ent­wicklung wusste auch der Klavierpädagoge Peter Heilbut. Anhand von „Rumpelstilzchens Lied und Tanz“ wird beispielhaft gezeigt, welches Potenzial die Märchenthema­tik für die musikalische Gestaltung dieses vierhändigen Klavierstücks bereithält.

Wer kennt sie nicht: Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen und all die anderen Gestalten, die in einer Welt zwischen Wunder und Wirklichkeit agieren und faszinieren. Spätestens seit Bruno Bettelheim ist klar: „Kinder brauchen Märchen“ für ihre seelische Entwicklung. In der Einführung seines gleichnamigen Buchs stellt der Psychoanalytiker und Kinderpsychologe fest: „Je mehr ich mich bemühte zu verstehen, warum das Märchen so bezeichnend für das innere Leben des Kindes ist, um so klarer wurde mir, daß das Märchen in einem viel tieferen Sinn als jede andere Lektüre dort einsetzt, wo sich das Kind in seiner seelischen und emotionalen Existenz befindet. In den Märchen kommen die schweren inneren Spannungen des Kindes so zum Ausdruck, daß es diese unbewußt versteht; und ohne die heftigen inneren Kämpfe des Heranwachsens herunterzuspielen, bieten sie Beispiele dafür, wie bedrückende Schwierigkeiten vorübergehend oder dauerhaft gelöst werden können.“1
„Was gibt dem Märchen eine so besondere Stellung in aller Literatur, was macht das Märchen zur Literatur des Kindes?“2 Dieser Frage ging die Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler bereits in den 1920er Jahren nach. Sie schreibt: „In der Tat, diese naive Verkettung des Alltäglichen, ja Profanen, mit dem Außerordentlichen und Wunderbaren ist eine nur dem Volksmärchen anhaftende Eigentümlichkeit, die eine einzigartige Einfalt bekundet. Eine solche Anschauungsweise muß der kindlichen Auffassung vom Leben sehr nahe kommen. Profanes und Heiliges nimmt es ohne Unterscheidung unbefangen und mit Unschuld hin, Wirklichkeit und Wunder sind ihm noch nicht durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Dem Kinde mag die Märchenwelt in eben dem Maße natürlich sein als sie dem Erwachsenen unwirklich ist.“3
Der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther bezeichnet Märchen gar als „Zaubermittel“ und „Superdoping“ und plädiert aus neurobiologischer Sicht für den Erhalt der Tradition des Märchenerzählens: „Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das Ihr Kind stillsitzen und aufmerksam zuhören lässt, das gleichzeitig seine Fantasie beflügelt und seinen Sprachschatz erweitert, das es darüber hinaus auch noch befähigt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle zu teilen, das gleichzeitig auch noch sein Vertrauen stärkt und es mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen lässt. Dieses Superdoping für Kindergehirne gibt es. Es kostet nichts, im Gegenteil, wer es seinen Kindern schenkt, bekommt dafür sogar noch etwas zurück: Nähe, Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes. Dieses unbezahlbare Zaubermittel sind die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen oder vorlesen.“4 Hüther fügt hinzu: „Märchenstunden sind die höchste Form des Unterrichtens.“5

Rumpelstilzchens Lied und Tanz

Dieser Umstand ist es, den Peter Heilbut im Klavierunterricht nutzt. Er hält für wesentlich, sich im Instrumentalunterricht „Inhalten und Wegen zu[zu]wenden, die Freude am Instrument, Liebe zur Musik und Bereicherung des Lebensgefühls zum Ziel haben, oder die ganz einfach Lust darauf wecken, gute Musik machen zu können“.6 Nicht nur „Klavier spielen“, sondern „klavierspielend ,Musik erklingen‘ lassen“ – und zwar vom allerersten Anfang an: So heißt das Gebot der Stunde.7 Neben der frühzeitigen Beschäftigung mit musikalischen Parametern wie Artikulation und Phrasierung gibt es nach Heilbut „noch etwas, das Musik zum Blühen bringen kann: Das verinnerlichte Mitempfinden. Einem Musikstück kann eine märchenhafte Szene […] oder ein bildhaftes Gedanken-Pendant beigegeben werden.“8 Beides regt zum ausdrucksvollen Musizieren unmittelbar an.
Wie die Beigabe einer „märchenhaften Szene“ dieses „verinnerlichte Mitempfinden“ auszulösen vermag, wird nun anhand des vierhändigen Klavierstücks Rumpelstilzchens Lied und Tanz von Peter Heilbut gezeigt.9 Die folgenden methodischen Anregungen – basierend auf relativer Solmisation10 und Rhythmussprache nach Kodály11 – sind weniger als fertiges Stundenbild zu verstehen. Sie sollen vielmehr Impulse sein und einen Fundus von Ideen bereitstellen, aus dem bei der Planung des Unterrichts für Kinder im Grundschul­alter geschöpft werden kann. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei, wie das dem Märchen vom Rumpelstilzchen immanente Potenzial genutzt werden kann, um gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern eine schlüssige Interpretation zu entwickeln.

1 Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen, München 1999, S. 12.
2 Bühler, Charlotte: Das Märchen und die Phantasie des Kindes, Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 17, Leipzig 21925, S. 11.
3 ebd.
4 Hüther, Gerald: „Weshalb wir Märchen brauchen – Neurobiologische Argumente für den Erhalt einer Märchenerzählkultur“, in: Stimme des Nordens in Märchen und Mythen. Märchen und Seele, Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen, Band 31, Krummwisch bei Kiel 2006, S. 124.
5 ebd.
6 Heilbut, Peter: Klavier spielen – Früh-Instrumentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch für die Praxis, Mainz 1993, S. 267.
7 ebd.
8 ebd., S. 269.
9 Heilbut, Peter: Die Liederfibel. Ein Weg zum Erlernen des Klavierspiels und des gemeinsamen Musizierens am Klavier, Zürich 1961, S. 48 f.
10 Zur relativen Solmisation siehe Heygster, Malte/ Grunenberg, Manfred: Handbuch der relativen Solmisation, Mainz 1998.
11 Zur Rhythmussprache nach Kodály siehe Haselbach, Barbara/Nykrin, Rudolf/Regner, Hermann (Hg.): Musik und Tanz für Kinder. Musikalische Grundausbildung, Lehrerkommentar, Mainz 1990, S. 93.

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