Voigt, Anton
Alfred Cortot
Tastenpoet – Lehrer – Kulturakteur
Alfred Cortot (1877-1962) war ein eminenter, in der Subjektivität seiner Interpretationen international bewunderter, aber auch umstrittener Pianist. Im Lauf seines Lebens brachte er es auf mehr als 6000 Konzerte. Viele erhaltene Aufnahmen dokumentieren die Qualitäten seines Spiels und beleben seinen Nachruhm. Cortot wirkte auch als Dirigent, Musikschriftsteller, Pädagoge, klaviermethodischer Systematiker, Herausgeber und Bearbeiter, Musikvermittler, leidenschaftlicher Sammler von Autografen und Kunstgegenständen, des Weiteren als Kulturpolitiker und -funktionär. Die Begeisterung des Wagnerianers sowohl für die deutsche wie für die französische Musik bewog ihn Zeit seines Lebens zu Bemühungen um eine Vermittlung der beiden nationalen Musikkulturen.
Anton Voigt stellt Cortots Wirken und seine Persönlichkeit umfassend im Zusammenhang mit eingehend beschriebenen zeitgeschichtlichen Entwicklungen dar. Seine Ausführungen bestechen durch enormen Kenntnisreichtum, akribische Gründlichkeit der Recherchen, Differenziertheit und behutsame Urteile. Erhellend bringt er vielerlei Auszüge aus allen möglichen, zum Teil entlegenen und unveröffentlichten Quellen ein, darunter viele Konzertkritiken aus verstreuten Tageszeitungen. Das minutiöse Mosaik vermittelt detailliert die bis heute unvermindert anhaltende Faszination Cortots. Dem Autor gelingt ein Porträt, das an Gründlichkeit und Vielfalt alle bisherigen Arbeiten über Cortot in den Schatten stellt.
Ausführlich kommen der Homme des lettres Cortot und viele seiner Zeitgenossen zu Wort. Manche Widersprüche werden aufgedeckt, etwa der zwischen Cortots rigider Techniklehre (in seinen Grundbegriffen der Klaviertechnik sowie in Arbeitsausgaben von Klavierwerken Chopins) und seiner andernorts geäußerten Auffassung über den Erwerb technischer Fähigkeiten: Dort vertrat er die „Meinung, dass der einzige Weg, die Spieltechnik schnell und sicher zu vervollkommnen, darin besteht, sie eng an die Belange der poetischen Interpretation zu binden“.
Gründlich beschäftigt sich Voigt mit Cortots interpretatorischem Stil, seiner Unterrichts- und Vortragstätigkeit, seiner Sammelleidenschaft und nicht zuletzt seinem Agieren als kulturpolitischer Funktionsträger im Dienste der mit dem „Dritten Reich“ kollaborierenden Regierung des Marschalls Pétain in Vichy. Hier kommt Voigt mit der israelisch-französischen Historikerin Limore Yagil zu dem Urteil: „Cortot schloss sich dem Vichy-Regime an, nicht aus ideologischen Gründen oder um einen ehrenhafteren Posten zu erlangen, sondern um Pläne für eine Reform der Musikausbildung in Frankreich verwirklichen zu können, die er seit mehreren Jahren umsetzen wollte.“ Cortot habe „unpolitisch bis zur Taktlosigkeit“ gedacht.
15 Abbildungen, etliche Texte von Cortot, eine Diskografie und ein umfangreiches Literaturverzeichnis runden den exzellenten Band ab.
Ulrich Mahlert