Hennenberg, Beate
Alle Menschen sind grundsätzlich musikalisch
Gespräch mit Claudia Schmidt und Robert Wagner beim Hannoverschen Integrativen Soundfestival über Menschen mit Behinderungen an Musikschulen
Die Idee zu einem Integrativen Soundfestival entstand 2006 im Kreise von sozial engagierten Musikern und Kulturschaffenden der Musikschule Fürth und des Verbands deutscher Musikschulen, denen das gleichberechtigte Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ein Anliegen ist. Im Juli 2007 fand das erste Fürther Integrative Soundfestival (FIS#) statt. Mittlerweile strahlt das Festival ins ganze Land aus: Im Oktober 2008 wurde in Dortmund das Dortmunder Integrative Soundfestival (DIS#) durchgeführt, im Oktober 2009 fand HIS#, das Hannoversche Integrative Soundfestival, statt. Als Vordenker und Ideengeber sind regelmäßig Claudia Schmidt, Gründerin und Leiterin der integrativen Band „Just Fun“, und Robert Wagner, Leiter der Musikschule Fürth, dabei.
Was gestaltete sich beim diesjährigen Hannoverschen Integrativen Soundfestival so aufregend anders?
Claudia Schmidt: Schon dass über drei Jahre hinweg lückenlos diese Integrativen Festivals in verschiedenen deutschen Städten durchgeführt werden konnten, ist aufregend. Neu und anders war die Idee, den Konzerten, in welchen namhafte Bands wie „Artossa“ oder „Jane“ gemeinsam mit Bands aus regionalen Förderschulen oder Werkstätten spielten, flankierende Workshops beizugeben.
Robert Wagner: Was die Musiker anbelangt, so sind die Wertschätzung für das Besondere des jeweiligen Kollegen und die Begegnung auf Augenhöhe wirklich jedes Mal aufregend und neu.
Auch „Just Fun“ stand auf der Bühne…
Claudia Schmidt: Alle Bandmitglieder wollten unbedingt nach Hannover reisen, auch wenn eine solche Tour logistisch immer eine Herausforderung ist. „Just Fun“ ist die integrative Big Band der Musikschule Bochum, die sich 1989 zunächst „Die Notenband“ nannte, weil tatsächlich einige Noten lesen konnten. Dreißig junge Menschen musizieren Rock, Pop, Samba bis hin zu Weltmusik. Sie zeichnen sich nicht nur durch die ungewöhnliche Besetzung aus, indem Rasseln, Drumset, Keyboard, Akkordeon, Melodika und Saxofon zum Equipment gehören, sondern vor allem dadurch, wie sie sich die Musik aneignen. Manche spielen nach Noten, viele nach Fingersätzen, einige nach Buchstaben und Zahlen, aber auch nach Farbpunkten, und ein paar eher atmosphärisch nach Gefühl und Vorstellung.
Ein kurzes Beispiel?
Claudia Schmidt: Da gibt es vielleicht einen Musiker in der Band, der eine Spastik hat und deshalb nicht ganz exakt auf dem Punkt einsetzen kann. Ich mache ihm dann ein Angebot und gebe ihm eine atmosphärische Möglichkeit, indem ich ein Zeitfenster einbaue, über zwei oder vier Takte, in denen unten ein Groove läuft.
In diesem Zeitfenster hat er die Chance, sein Solo zu spielen. Im Jazz gibt es viele freie Möglichkeiten. Das erfordert vom Bandleader ein gewisses Geschick im elementaren Arrangieren. Man muss Songs unterteilen in Abschnitte, Motive und darin meist noch mal in einen melodischen, rhythmischen und harmonischen Bereich. Und natürlich greife ich Impulse der Bandmitglieder auf. Von Anfang an proben die Musiker gemeinsam mit ihrem individuellen musikalischen Können, wobei jene Prinzipien zur Anwendung kommen, die in jedem guten Unterricht Bestand haben: Aufgaben klar formulieren, von Gekonntem ausgehen, mit allen Sinnen arbeiten, nicht zu viele Inhalte gleichzeitig anfordern und ohne Umschweife zum musikalischen Handeln kommen.
Das Prinzip, das in der Band funktioniert, lässt sich auch aufs Festival übertragen: Das gemeinsame Musizieren geschieht von Anfang an.
Robert Wagner: Ja, in den Proben und vor allem dann in den Auftritten verbinden sich die Originalität und die persönlichen Potenziale der einzelnen Musiker über die Musik als Kommunikationsmittel. Da werden ein gelebtes Miteinander und der gegenseitige Respekt auch als musikalische Qualität sicht- und hörbar. Da fängt Musik an zu leben, zu vibrieren. Es wird die Erfahrung der Bereicherung durch integrative Bands für alle greifbar. Denn, wie eine Musikkritikerin über integrative Bands schreibt, diese Bands profitieren von ihrer heterogenen Zusammensetzung: „Originelle Klangspektren, Strukturideen und die ungebrochene Authentizität des musikalischen Ausdrucks führen zu einem Gesamtentwurf, der nicht stimmiger und packender sein könnte.“ Jedes Soundfestival beantwortet die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, sozusagen exemplarisch auf musikalischer Ebene.
Die Musiker, die in Hannover auftraten, sind völlig verschieden. Und doch verbindet sie – wie zu spüren war – jenseits von Alter, Herkunft oder der musikalischen Erfahrung ein ganz starker Strang: die unbedingte Liebe zur Musik.
Claudia Schmidt: Die heterogene Zusammensetzung und die Authentizität beim Musizieren sind Phänomene, welche bewirken, dass immer mehr professionelle Musiker Interesse haben, in integrativen Bands mitzuwirken. In meiner Bandarbeit geht es mir nicht darum, wie lange jemand ein Stück üben muss, bis er das kann. Da gibt es vielleicht jemanden, der aktuell zwei Töne auf seinem Instrument spielen kann. Aber dann es gibt einen anderen, der bereits komplizierte Skalen spielen kann. Die einzelnen Musiker können von den Fähigkeiten der anderen lernen. Wenn jemand ein gutes Solo spielt, profitiert die ganze Band davon. Wichtig ist, es soll allen Spaß machen. Die ganze Pädagogik funktioniert nur über Beziehungen. Wenn der Lehrer ein emotionales Vorbild ist, funktioniert das. Aber nur dann. Der Lehrer muss sich auf die Beziehung einlassen.
Diese Aussage lässt sich allgemein auf das Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung übertragen?
Robert Wagner: Ja. Es geht hier nicht darum, ein Musikwerk von A bis Z so wie es ist abzuspielen, möglichst fehlerlos. Sondern darum, dass der Mensch eine Komposition erhält, ein Lead Sheet, in dem Akkordsymbole oder eine Melodie notiert sind. Meist hat er im Rahmen des Unterrichts gelernt mit dem Sheet umzugehen. Das heißt, für sich selber Möglichkeiten zu finden, die Mitgestaltung an der Umsetzung der Musik zu ermöglichen. Dazu braucht man die Bausteinmodule, um zu erkennen: Wo kann ich mich einbringen? Gibt es Alternativen zu schwierigen Passagen? Die Notenvorlage ist einfach ein Angebot.
Claudia Schmidt: Wenn ich ein neues Stück heraussuche, muss ich schauen, wo der Kern der Komposition ist. Wir ausgebildeten Musiker hängen an den Trillern. Bei dieser Arbeit zählt aber etwas ganz anderes.
Werner Probst war der Vordenker im Bereich integrative Musikschularbeit und Initiator des Modellversuchs des Verbands deutscher Musikschulen „Instrumentalspiel mit Behinderten und von Behinderung Bedrohten“. Er schreibt: „Ein Kind, dessen dringender Wunsch es ist, Klavierspielen zu erlernen, obschon Finger einer Hand deformiert sind, wird das Klavierspielen erlernen. Die Lehrkraft muss sich etwas einfallen lassen.“ Sie beide führen seine Arbeit im Rahmen des „Berufsbegleitenden Lehrgangs Instrumentalspiel für Menschen mit Behinderung an Musikschulen“ (BLIMBAM) fort?
Robert Wagner: In Deutschland engagiert sich der Verband deutscher Musikschulen für Menschen mit Behinderung, welche musizieren möchten. Die Initiative gründet auf der Überzeugung von Probst, dass alle Menschen grundsätzlich musikalisch sind, weil sie wie wir alle Musik erleben können. Mit seinem Modellversuch trat Probst in Bochum 1979 dafür den Beweis an und öffnete eine Tür für die Menschen, die bis dahin keinen Zugang zu Musikschulen gefunden haben. Auf jeden Fall ist eine Musikschule der richtige Ort für alle Menschen, denen Musik etwas gibt und die sich für Musik engagieren, unabhängig von Herkunft oder Begabung. Für uns an Musikschulen Lehrende heißt das, eine Pädagogik zu entwickeln, die aufbaut; die aber auch den Abbau an Geistes- oder Körperkraft menschenwürdig begleitet. Ein Schubladen-Denken wäre hier völlig falsch.
Claudia Schmidt: An der Musikschule in Bochum ist die individuelle Betreuung behinderter Menschen fast zur Normalität geworden: Rund 180 Schüler werden wöchentlich in 60 Unterrichtsstunden und zehn Ensemblestunden von 20 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Es könnten noch mehr Schüler sein, wenn nicht Sparmaßnahmen der Stadt eine Ausweitung der Abteilung momentan unmöglich machen würden. Diese Schüler nehmen wie alle anderen Instrumentalunterricht wahr, gehen in die musikalische Früherziehung oder spielen in einer Band Gitarre. Die Musikschullehrer arbeiten mit körperlich oder kognitiv beeinträchtigten, mit sprachbehinderten, schwerhörigen, blinden und verhaltensauffälligen Menschen. Wir Lehrkräfte im Bochumer Modell sind teils an Hochschulen ausgebildete Instrumentalpädagoginnen und Instrumentalpädagogen, die zum großen Teil über eine Zusatzausbildung verfügen, oder Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen mit dem Fach Musik.
Robert Wagner: Die Zeit ist reif dafür, Menschen mit Beeinträchtigungen den Weg in die Musikschulen zu öffnen. Eigentlich war die Zeit dafür reif, seit es die ersten Musikschulen gab. Aber immer wurden Menschen von anderen Menschen getrennt. Mittlerweile ist anerkannt, dass jeder Mensch gefördert werden kann. Probsts Initiative hat Nachfolgebewegungen zur Folge. Es werden sich Musikschulen generell von ihrer Angebotshaltung her ändern müssen, wenn jetzt Menschen mit Behinderung zugelassen sind. Normalerweise gab und gibt es vereinzelt bis heute Aufnahmeprüfungen, die auf Spitzenbegabungen ausgerichtet sind. Wenn man die Musikschulidee so versteht, dass jedem Menschen ein Angebot gemacht wird, dann sind Prüfungen nicht mehr zeitgerecht.
Berichten Sie bitte über die von Ihnen geleitete Musikschule in Fürth, die völlig neue Wege geht.
Robert Wagner: Im integrativen Unterricht – und ich unterrichte wöchentlich 28 Stunden – lege ich Wert auf individuell angepasste Unterrichtsformen. Dort habe ich ein spezielles Unterrichtsmaterial zur Verfügung. Inzwischen habe ich zehn eigens für den Instrumentalunterricht mit Behinderten ausgebildete Lehrkräfte eingestellt, welche derzeit 83 Schüler mit Handicap unterrichten und helfen, etwaige Berührungsängste mit der Musikschule zu nehmen. Das Ziel ist nach Möglichkeit immer die Integration in bestehende Ensembles.
Jene zehn Lehrkräfte haben den berufsbegleitenden Lehrgang zum Instrumentallehrer für Menschen mit Behinderung an der Akademie Remscheid absolviert. Welche Themenbereiche betreuen Sie beide dort?
Robert Wagner: Ja, diese Kolleginnen und Kollegen haben für sich diese Arbeit als wertvoll empfunden und von sich aus diesen Lehrgang an der Akademie in Remscheid absolviert. Bundesweit haben sich inzwischen rund 700 Musikschullehrer im Rahmen dieses zweijährigen Kurses weitergebildet. Meine Hauptthemen dort sind das Arrangieren, die Improvisation, die musikpsychologischen Grundlagen und die Idee, das Angebot der Musikschulen für alle Menschen zu öffnen. Ich stelle verschiedene Organisationsmodelle vor, also: Wie kommt der Kollege zu den Menschen mit Behinderung – denn die laufen nicht auf der Straße herum und wollen angesprochen werden. In einer nächsten Motivationsphase sollen diese Menschen ermuntert werden, an sich selber zu erproben, ob die Musik zur persönlichen und individuellen Sinnfindung beiträgt. Wenn sie das bejahen, sollen Musikpädagogen diese Menschen dort abholen und ihnen die Teilhabe an ganz normalen Angeboten der Musikschulen zukommen lassen. Musik ist ja ein ganz besonderes Feld, weil der Glaube an die eigene Unmusikalität in viele Köpfe gepflanzt wurde. Menschen, die das verinnerlicht haben, geben diesen Unglauben an ihre Kinder weiter. Und wenn diese ein Handicap haben, umso verstärkt. Mit den Integrativen Soundfestivals wollen wir Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung und Profimusiker gemeinsam in Konzerten an die Öffentlichkeit bringen und dort ihre Leistungsfähigkeit der Öffentlichkeit bewusst machen. Diese Überzeugungsarbeit ist Pionierarbeit, noch immer.
Claudia Schmidt: In meinen Seminaren geht es um die Stimme und den Einsatz in verschiedenen Ensembles sowie um Bewegung. Wenn ein Pädagoge in einer Förderschule beginnt, muss er die Klasse motivieren. Jeder soll zeigen, was er ausdrücken möchte. So kann er schlecht mit einer Klavierstunde beginnen. Er muss herausbekommen, wer hat Lust ein Instrument zu lernen? Welches Instrument interessiert welchen Schüler? So beginne ich gerne mit Bewegung und Tanz in der Klasse.
Aber Sie beide denken noch weiter. Wie sehen Ihre Visionen aus?
Claudia Schmidt: An der Technischen Universität in Dortmund gibt es im Fachgebiet Musikerziehung und Musiktherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung der Fakultät Rehabilitationswissenschaften die berufsbegleitende Zusatzausbildung Zertifikat Intakt, und in diesem Rahmen die temporäre Kunstakademie palaixbrut_takeover, die das Ziel hat, jungen, begabten Menschen einen Forschungs- und Bildungsraum zu eröffnen. Dort bin ich für den Bereich Musik zuständig. Mehr als 85 Teilnehmer mit und ohne Behinderung haben sich in den Bereichen Tanz, Theater, Musik und Bildende Kunst und Performance innovativ weitergebildet. Das Projekt ist gedacht für Menschen, die nie an eine Musikhochschule kommen können, aber doch über so hohes künstlerisches Potenzial verfügen, dass sie eventuell ihr Geld damit verdienen könnten. Hier steht der Inklusionsgedanke im Vordergrund, dass jedem ein passendes Angebot gegeben wird, welches ihm gerecht ist, das ihm zusteht. Dieses Projekt ist für mich logisch gedacht die Weiterführung der Musikschularbeit: Zuerst geht es darum, dass ein Angebot gemacht wird für Leute, die aus dem Raster fallen. Dann erfüllt die Musikschule ihren Bildungsauftrag. Wenn dann jemand noch weitermachen möchte, soll er die Chance bekommen, mit anderen Künstlern zusammenzukommen. Man muss also die Rahmenbedingungen schaffen und natürlich die Öffentlichkeit darüber informieren, zu welch großartigen Leistungen diese Künstler fähig sind.
Robert Wagner: Behinderte Menschen können sehr weit kommen auf ihrem Instrument. Ob sie je ihr Geld damit verdienen können, das kann man auch bei einem nicht behinderten Profi, der auf hohem Niveau Musik macht, nicht voraussagen. In unserer Fürther Musikschule gibt es neuerdings unter dem Projektnamen „Berufung Musiker“ eine Initiative des Bezirks Mittelfranken, der die musikalische Ausbildung behinderter Menschen an der Musikschule Fürth unterstützt: Zwischen 2009 und 2011 wird eine fundierte musikalische Ausbildung von acht Menschen mit Behinderung in den Dambacher Lebenshilfe-Werkstätten ermöglicht. Deren Außenarbeits-Werkstattplatz heißt eben Musikschule. Und dort lernen sie den Beruf des Musikers: Sie bekommen Unterricht in Fächern wie Musiktheorie, Ensemblespiel und Harmonielehre. Ein Profi-Musiker soll ja, abgesehen vom Geld, sich vor allem einen musikalischen Ausdruck erarbeiten, der den Namen Profi verdient. Bei uns läuft das praktisch so ab, dass die Teilnehmer während der zwei Ausbildungsjahre jeweils an drei Vormittagen in der Woche von ihrer Arbeit in der Werkstatt freigestellt werden und am Unterricht an der Musikschule Fürth teilnehmen. Dafür stellt die Musikschule neun speziell ausgebildete Lehrkräfte ab.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2010.