de Banffy-Hall, Alicia
An der Schnittstelle
Deutsche und internationale Perspektiven auf Community Music in Musikschulen
Community Music hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland immer mehr als musikpädagogisches Feld etabliert. Welche Rolle kann Community Music in Musikschulen spielen? Und wie kann diese Arbeit konkret aussehen?
Community Music ist ein international etablierter Teil der Musikpädagogik, in dem es um aktives Musizieren in Gruppen geht, beruhend auf Grundwerten wie kultureller Demokratie, Inklusion und Empowerment. Lernen in der Musik, die sozialen Prozesse der Gruppe und das angestrebte (musikalische, pädagogische und soziale) Ergebnis stehen gleichberechtigt nebeneinander. Community Musicians unterstützen und leiten Gruppen musikalisch und sozial als „Facilitator“, Ziele werden miteinander verhandelt und Schwerpunkte liegen auf kollaborativer Gruppenarbeit.
Community Music hat immer Bezug zum Kontext, in dem die Arbeit stattfindet: Zum Beispiel machen in Australien Aborigines mit Studierenden einer Universität gemeinsam Musik und komponieren zusammen.1 Neben dem gemeinsamen Musizieren geht es dort auch um interkulturelle Versöhnung und die Heilung des Unrechts, welches den Aborigines angetan wurde. In England arbeitet die Organisation „More Music in Morecambe“2 vor allem im eigenen Stadtviertel. Neben Ensemblearbeit und regulären Angeboten wie musikalischer Früherziehung geht die Organisation ganz bewusst raus in die Gemeinde, entwickelt Projekte gemeinsam und in Reaktion auf konkrete Bedarfe. Als beispielsweise Jugendliche der Gegend anfingen zu randalieren, haben Community Musicians für sie und mit ihnen gemeinsam ein Projekt entwickelt: das Friday Night Project, in dem neben DJing und Rappen auch Street Dance angeboten wurde. Und nachdem 24 illegal eingewanderte chinesische Fischer ertrunken waren, hat „More Music in Morecambe“ Musikprojekte mit der chinesischen Community aufgebaut.3 In Iowa (USA) schließlich leitet Mary Cohen einen Chor,4 in dem „Inside Singers“ (Gefängnisinsassen) mit „Outside Singers“ (BesucherInnen von außen) gemeinsam singen und auftreten.
Community Music hat sich in den vergangenen Jahren auch in Deutschland etabliert: Neben vermehrten Aus- und Fortbildungen in Community Music hat etwa das Konzerthaus Dortmund eine Vollzeitstelle für einen Community Musician geschaffen, um die musikalische Stadtteilarbeit aufzubauen.5 Natürlich gibt es in Deutschland schon lange viele Projekte, die als Community-Music-Projekte bezeichnet werden können. Community Music befindet sich hier an der Schnittstelle zwischen Musik in der Sozialen Arbeit, Musikpädagogik (vor allem der EMP, Musikvermittlung, Musikgeragogik) sowie kultureller Bildung, Musiktherapie und Volksmusik.6 Community Music bietet eine theoretische Linse, um die musikpädagogische Praxis unter den Idealen der kulturellen Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit kritisch zu reflektieren und umzusetzen.
Community Music im Kontext deutscher Musikschulen
Musikschulen in Deutschland sind eingebettet in gut organisierte und geförderte Strukturen, die im internationalen Vergleich selten zu finden sind. Es gibt viele Akteure, für die eine „Musikschule für alle“ inzwischen Teil des Kerngeschäfts ist. Hans-Joachim Rieß hat dargelegt, inwiefern sich Prinzipien der kulturellen Bildung in den Musikschulen widerspiegeln, und plädiert dafür, dass Musikschulen die Prinzipien kultureller Bildung mit angemessenen finanziellen Ressourcen wieder mehr in die Gesellschaft tragen und sich wieder mehr „einmischen“.7 Und ich selbst habe dargelegt, inwiefern sich Prinzipen der Community Music in der kulturellen Bildung widerspiegeln.8
Gemeinsamkeiten in der ideellen Basis von Community Music und den Leitbildern von Musikschulen werden auch im folgenden beispielhaften Auszug aus dem Leitbild der Musikschule Ebersberg sichtbar: „Unsere Musikschulangebote sind offen für alle. Wir schaffen Zugänge für Menschen unterschiedlicher Herkunft in jedem Alter und bringen deren eigene Begabungen und Ziele zur Entfaltung. […] Die Musikschule schafft Raum für eigenes Lernen und Üben in Verbindung mit gemeinschaftlichem Musikschaffen in Werkstätten. Sie führt zum selbstbestimmten Musikmachen ein Leben lang. […] Die Akteure identifizieren sich mit der Musikschule als sozialer Gemeinschaft, die sich als eine für die Gemeindekultur essenzielle Zutat erweist, […] die soziale Dynamik auch mit der Haltung und dem Ansatz von ,Community Music‘ erzeugt.“9
Leitideen wie Zugänglichkeit für alle, Offenheit, gemeinschaftliches selbstbestimmtes Musikmachen, musikalische Arbeit in Werkstätten (Workshops) und Beiträge zur Gemeindearbeit können in beiden Diskursen gefunden werden.
Es gibt jedoch auch große Unterschiede. Historisch hat sich Community Music außerhalb von Institutionen als Grenzgängerin gesehen und ist mehr am informellen und non-formellen Lernen orientiert. Hier gibt es ein Spannungsfeld zwischen einem traditionellen institutionalisierten Musikunterricht mit verbindlichen Lehrplänen und Community Music mit ihrem Fokus auf ausgehandelte soziale und musikalische Prozesse in der Community.10
Peter Pfaff, Musikschulleiter in Ebersberg, beschreibt das so: „Man darf nicht unterschätzen, dass es für die Lehrkräfte, die im eigenen musikalischen Werdegang gänzlich anders aufgewachsen sind, eine Menge Mut braucht, sich dem zu öffnen – Mut überhaupt nur zu beobachten, sich Community Music in der eigenen Arbeit zu nähern. Es gibt auch abschmetternde Kommentare: Was soll denn das mit Musik zu tun haben? Und schon ist das für diejenigen gestorben. Was wir als Musikschulleiter tun können, ist, unsere Leute zu ermutigen. Es geht immer um die kurze Spanne der Unsicherheit. Wenn das Fahrrad steht, dann kannst du nicht leicht umfallen. Wenn du mit dem Fahrrad fährst, gilt das physikalische Gesetz: Bewegung stabilisiert. Wirklich schwierig ist der Übergang zwischen dem Statischen und der neuen Bewegungsroutine. Sich diesem Moment zu stellen, ist die große Herausforderung für Musikschulen.“11
Trotz des Spannungsfeldes und wegen der Gemeinsamkeiten würde ich argumentieren, dass Community Music eine unterstützende, theoretisch und praktisch fundierte Basis sein kann für ein meiner Meinung nach aktuell essenzielles gesellschaftliche „Einmischen“ der Musikschulen.
Herausforderung der Teilhabe in Musikschulen
Trotz der Ideale, die viele Musikschulen explizit formulieren, sind musikalische Praxen für Jugendliche in Deutschland immer noch ungleich zugänglich: „Im Gegensatz zum aktiven Musizieren insgesamt erweist sich die Teilnahme an bezahltem Musikunterricht deutlich als einkommensabhängig […] Die Tatsache jedenfalls, dass auf jeden Hauptschüler mit bezahltem Musikunterricht knapp neun Gymnasiasten kommen, die bezahlten Musikunterricht erhalten, dokumentiert ein strukturelles Problem.“12 Peter Pfaff sagt zu den Ergebnissen der zitierten Studie: „Mit dem öffentlichen Bildungsauftrag unserer Einrichtung muss das richtig weh tun!“
Julia Zanke, Leiterin des Projekts jamtruck der Folkwang Musikschule Essen, sieht die Hauptherausforderung in der Umsetzung kostenfreier und somit zugänglicherer Projekte, also in der Finanzierung von Musikschulen. Eine Musikschule muss es sich leisten können, aus Etatmitteln kostenlosen Unterricht anzubieten. Das jamtruck-Projekt ist nach vielen Jahren der Förderung durch die Stiftung Mercator seit Sommer 2017 durch die Förderung der Stadt Essen verstetigt worden. Dort wünscht sich die Politik, dass der jamtruck weitergeführt wird.13
Eine weitere Herausforderung besteht in der Nutzung der Angebote von Menschen, die traditionell nicht in die Musikschule gehen. Trotz des vielfältigen Angebots und der Strukturen der deutschen Musikschulen gibt es immer noch Menschen, die dadurch nicht erreicht werden. Diesem Bedarf begegnet das jamtruck-Projekt der Folkwang Musikschule Essen: Der jamtruck ist ein Lastwagen, der mit mobilem Tonstudio und Probenraum ausgestattet in verschiedene Stadtviertel zu unterschiedlichen Zielgruppen fährt. Im jamtruck können Kinder und Jugendliche kostenlos ihre eigenen Lieder mithilfe von MusiklehrerInnen schreiben und aufnehmen, die sie in diesem Prozess unterstützen (als „Facilitator“ tätig sind). Die Teilnahme benötigt keine Anmeldung oder musikalischen Voraussetzungen (Zugänglichkeit) und die Anleitenden arbeiten niederschwellig mit dem Ziel, die Teilnehmenden so schnell wie möglich an die Instrumente zu bringen (aktives Musizieren in Gruppen).
Beispielhaft am jamtruck-Projekt ist auch die Vernetzung mit anderen Institutionen wie zum Beispiel die Vernetzung der Jugendhilfe mit dem Jugendamt. Der jamtruck fährt vor allem in Stadtviertel und zu Schulen, in denen Kinder oft keinen Musikschulunterricht bekommen. Aber selbst dort, sagt Julia Zanke, finden die Kinder nach einem jamtruck-Projekt selten den Weg in den regulären Musikschulunterricht. Dies wird in der Projektevaluation bestätigt: „[…] weitere Angebote müssten unbedingt vor Ort stattfinden, um den Zugang für die Jugendlichen zu ermöglichen. Denn sie verließen erfahrungsgemäß ihre Wohnviertel nicht, um etwas weiter entfernte Angebote wahrzunehmen.“14
Wie können also Angebote konzipiert werden, um damit genau diese Menschen zu erreichen? Wo müssten diese Angebote stattfinden? Hier können Community-Music-Projekte Erfahrungswerte bieten. Denn in der Community Music werden existierende Strukturen in Frage gestellt und man beschäftigt sich mit Fragen wie: Wer macht bei uns Musik und wer nicht? Wer entscheidet, welche und wessen Musik wir unterrichten, spielen und hören – und wer nicht? Wer hat die Macht zu entscheiden? Wer sitzt mit am Tisch und wer fehlt? Wer wird nicht gehört? Wer hat Zugang zu Räumen und Ressourcen? Welche Instrumente und Musikformen werden an unseren Musikschulen unterrichtet und welche nicht? Inwiefern reflektieren die Angebote der kulturellen Institutionen die Communities, in denen sie arbeiten? Sollte sich der gesellschaftliche Wandel mit immer mehr alten Menschen und Menschen aus immer mehr Kulturen in den Inhalten und Angeboten unserer kulturellen Institutionen und der musikpädagogischen Arbeit widerspiegeln?
Das Recht aller Menschen auf ihren persönlichen musikalischen Ausdruck, die Pflicht, als Gesellschaft dafür Räume zur Verfügung zu stellen, und eine innere Haltung der Anerkennung aller Menschen und ihrer Rechte werden auch in der UN-Menschenrechtskonvention Artikel 27 festgehalten: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“
Musikschulen als Plattformen für Community Music
„Es geht nur Schritt für Schritt. Das Musikschulsystem beschäftigt sich überwiegend mit dem Nachschaffen von Musik und zwar von Musik, die nicht aus unserer Lebenswirklichkeit stammt. Dieses System scheint sich an zentralen Punkten selbst zu genügen, sodass es für die Lehrkräfte kaum einen Anlass zu Veränderung gibt. Da sind die Musikschulleitungen gefordert, die Lehrkräfte alleine werden sich nicht auf Neuland wagen. Auch strukturell sind Anreize nötig, bei der Gebührengestaltung genauso wie im Rahmen der Honorierung. In erster Linie aber braucht es ganz viel Ermutigung, anregende Beispiele und Materialien, die einem über die Momente der Unsicherheit hinweghelfen. Das ist klare Leitungsaufgabe.“15
Ich habe oben die Herausforderungen beleuchtet: die (finanzielle, geografische und soziale) Zugänglichkeit der Musikschulen und das Spannungsfeld, in dem sich Lehrkräfte befinden (zwischen traditionellem Musikunterricht, Lehrplänen, der eigenen musikalischen Biografie und Community Music). Durch beispielhafte Projekte wurden mögliche Wege der Community Music in der Musikschule skizziert. Community Music ist sicher kein Arbeitsfeld für alle Musikschullehrkräfte. Aber für manche kann es eine spannende Ergänzung zum traditionellen Berufsbild sein. Und für eine Musikschule und ihre Community kann die daraus entstehende Arbeit eine große Bereicherung mit gesellschaftlicher Relevanz sein.
1 s. https://musicaustralia.org.au/2014/11/musical-collaborations-from-the-east-coast-to-desert-country (Stand: 26.8.2020) und Brydie-Leigh Bartleet/Naomi Sunderland/Gavin Carfoot: „Enhancing intercultural engagement through service learning and music making with Indigenous communities in Australia“, in: Research Studies in Music Education, 38(2), 2016, S.173-191.
2 https://moremusic.org.uk (Stand: 26.8.2020).
3 https://thelongwalkmoremusic.wordpress.com (Stand: 26.8.2020).
4 https://oakdalechoir.lib.uiowa.edu (Stand: 26.8.2020).
5 www.konzerthaus-dortmund.de/communitymusic (Stand: 26.8.2020).
6 Zum Beispiel offene Jodeltreffs, Hoagartn mit Schwerpunkt Inklusion oder Internationale Hoagartn: www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Kulturreferat/Volkskultur/MakingMusi.html (Stand: 26.8.2020).
7 Hans-Joachim Rieß: „Zur Ideengeschichte der ,Prinzipien Kultureller Bildung‘ im Praxisfeld der öffentlichen Musikschule“, 2019, www.kubi-online.de/index.php/artikel/zur-ideengeschichte-prinzipien-kultureller-bildung-praxisfeld-oeffentlichen-musikschule (Stand: 26.8.2020).
8 Alicia de Banffy-Hall: The development of community music in Munich, Münster 2019.
9 Musikschule Ebersberg, Leitbild, 2019.
10 Das englische Wort Community kann auf deutsch unter anderem mit Gemeinde, Gemeinschaft, Gemeinwesen übersetzt werden. Die „Community“ in Community-Music-Projekten kann z. B. digital, kulturell, geografisch oder sozial begründet sein. Siehe Burkhard Hill/Alicia de Banffy-Hall: Community Music: Beiträge zur Theorie und Praxis aus internationaler und deutscher Perspektive, Münster 2017.
11 Interview der Autorin mit Peter Pfaff, 2020.
12 Andreas Lehmann-Wermser/Valerie Krupp-Schleußner: Jugend und Musik. Eine Studie zu den musikalischen Aktivitäten Jugendlicher in Deutschland, Abschlussbericht, Bertelsmann Stiftung, 2017.
13 Interview der Autorin mit Julia Zanke, 2020.
14 Burkhard Hill/Jenniffer Wengenroth: Musik machen im Jamtruck. Evaluation eines mobilen Musikprojekts für Jugendliche, München 2013, S. 88.
15 Interview der Autorin mit Peter Pfaff, 2020.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2020.