Asmus, Bernd (Hg.)

Analyse und Interpretation

Musiktheorie in der künstlerischen Praxis

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2023
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 59

Ein Musikstück wird technisch bewältigt, doch bis zum Auftritt bleiben noch einige Wochen. Ein Weg, um sich in dieser oder einer ähnlichen Situation weiter mit der Musik zu beschäftigen, die Gestaltung zu schärfen oder sogar gänzlich neue Erkenntnisse zu gewinnen, besteht in der musikalischen Analyse. Der von Bernd Asmus herausgegebene Band Analyse und Interpretation versammelt elf Texte, die die Schnittstelle zwischen Musiktheorie und künstlerischer Praxis ausloten. Die Mehrheit der Autorinnen und Autoren sind neben ihrer wissenschaftlichen Betätigung zugleich ausübende MusikerInnen.
Der große Gewinn des Buchs besteht in der Vielfalt der vorgestellten Methoden. Wer musikalische Analyse vornehmlich mit der Zuweisung harmonischer Chiffren oder der Herausarbeitung motivischer Zusammenhänge assoziiert, wird womöglich überrascht sein, wie spärlich diese Felder bedacht sind. Stattdessen werden Stücke erforschend umkomponiert, finden neuere Perspektiven der harmonisch-kontrapunktischen Betrachtung oder Heinrich Schenkers Schichtenlehre Anwendung, werden Erfahrungen aus dem Spiel auf historischen Ins­trumenten oder dem Editionsvergleich eingebracht und auf ihre Konsequenzen für die musikalische Wiedergabe befragt.
Die naheliegende Gegenüberstellung bestehender Einspielungen führt neben verbalen Umschreibungen zu grafischen Klanganalysen, zur Ausdeutung von bildlich festgehaltener Gestik oder zum Abgleich mit in Begleitmedien geäußerten semantischen Interpretationsideen.
Spannend gestaltet sich, wie konkret sich die aus der Analyse entspringenden Gestaltungsvorschläge präsentieren. Während viele Beiträge eher allgemein auf eine zu erzielende Klarheit hinsichtlich der Struktur oder das Überblicken der Großform verweisen, deren Bewusstsein sich auf die eine oder andere Weise in der Interpretation widerspiegeln dürfte, sind auch explizite Handlungsempfehlungen vertreten: Aus der affektiven Zuschreibung der Hartnäckigkeit an die rhetorische Wiederholungsfigur der Perfidia leitet Dominik Sackmann ab, hier der Konvention einer abwechslungsreichen Schattierung von Wiederholungen zu widerstehen und die betreffenden Passagen tatsächlich gleichförmig vorzutragen. Als Mittelweg mag gelten, über die Analyse Fragen an einen Notentext aufzuwerfen, die dazu zwingen, interpretatorisch Stellung zu beziehen, ohne dass die Analyse selbst die Antwort vorgibt.
Das Format des Tagungsberichts bringt es mit sich, dass den eingereichten Referaten folgend nicht alle Facetten des übergeordneten Themas zur Sprache kommen können. So finden die Musik Johann Sebastian Bachs wie auch die Solo- und Kammermusikliteratur überproportionale Berücksichtigung. Gleichwohl wird der Band unabhängig von Beispielstücken viele analytische Zugriffsmöglichkeiten eröffnen.
Sören Sönksen