Wagner, Robert

Anders-Sein ist normal

Eine persönliche Bestandsaufnahme und ein verhalten ­zuversichtlicher Blick in die Zukunft

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2016 , Seite 06

„Wie viele Inklusionskinder habt ihr in eurer Klasse“, fragte der türkische Taxifahrer seine auf der Rückbank sitzende Tochter auf unserem Weg zum Fernbahnhof Siegburg-Bonn. Das Mädchen, neun Jahre alt, noch im Fußballtrikot, hatte gerade ein Fußballspiel hinter sich gebracht und begleitete ihren Vater im Taxi. „Zwei Inklusionskinder in ­meiner Klasse und ich glaube drei in meiner Paral­lelklasse“, antwortete das Mädchen, ohne von ihrem Handy aufzusehen.

Dieser kleine Ausschnitt aus einem anregenden Gespräch mit einem äußerst angenehmen Taxifahrer verweist ungeschminkt auf den aktuellen Stand des Begriffsverständnisses von Inklusion in unserem Land: „Inklu­sionskinder“ sind Kinder, die bisher in Förderschulen und jetzt in Inklusionsklassen der Regelschulen beschult werden. Nach wie vor wird der Begriff Inklusion nahezu ausschließlich auf Menschen mit Behinderung bezogen. Bei Inklusion geht es um die Anderen, um deren Rechte, die zuerkannt werden (müssen) und um deren Teilhabe an unserer Gesellschaft. Nie käme der Taxifahrer auf die Idee, dass Inklusion auch ihn und seine Familie meint. Genauso wie Hochbegabte oder Hochbetagte.
Menschen mit Behinderung werden durch einen inklusiven Prozess „rücksortiert“ in die Gemeinschaft aller Menschen. Das ist gut gemeint, erzeugt aber erhebliche Widersprüche:
– Wie kann ein Gesellschaftssystem, das den freien Wettbewerb als zukunftssichernden Motor heiligt, eine gleichberechtigte, chan­cengerechte Teilhabe auch nur in Aussicht stellen?
– Wie kann ein Schulsystem, das Selektion als Aufgabe festgeschrieben hat, die Förderung aller Menschen leisten?
– Wie glaubhaft ist eine Bildungspolitik, die für „Inklusionskinder“ neue Schubladen eröffnet?
Anstatt das Schubladendenken für Menschen mit Migrationshintergrund, mit Behinderungen, mit Hochbegabungen, für Menschen „im dritten Lebensabschnitt“, Menschen auf der Flucht zu beenden, werden Menschen neu sortiert und die Schubladen neu etikettiert. Damit wird die Chance, die eine inklusive Entwicklung bieten könnte, im Keim erstickt, noch bevor die Leitidee der Inklusion und ihre Möglichkeiten überhaupt verstanden wurden. Kann es im Sinne der „Inklu­sionskinder“ sein, wenn diese über einen Kamm geschert und unter mangelhaften Bedingungen in Regelklassen untergebracht werden?
Welche Perspektiven haben Schülerinnen und Schüler in einem Schulsystem, das individuelle Förderung verspricht, aber – der eigenen Funktionslogik gehorchend – einheitliche Ziele für alle festlegen muss? Will Inklusion in den Regelschulen ernsthaft verankert sein, müssen im Sinne der SchülerInnen mit Behinderung andere Lösungen in Erwägung gezogen werden als der dann alternativlose gemeinsame Unterricht in einer Schule für alle. Für manche Menschen ist eine Förderschule zu bestimmten Zeiten der geeignete Lernort und Schutzraum, für andere ist dies die Regel­schule. Das Ideal eines gemeinsamen Unterrichts ordnet sich so dem Ziel einer inklusiven Pädagogik unter. Ein die Vielfalt achtendes, den einzelnen Menschen ins Zentrum aller Überlegungen stellendes, durchlässiges und kooperierendes Angebot in individuell stimmigen Lernorten ist meines Erachtens nach wie vor der beste Garant für die bestmögliche Förderung jedes Menschen.

Musikschulen sind Angebotsschulen

Für öffentliche Musikschulen ist die Ausgangslage eine vollkommen andere als für Pflicht- und weiterführende Schulen. Musikschulen sind Angebotsschulen. Ihre SchülerInnen kommen freiwillig. Die Teilhabe aller Menschen ist ausdrücklich erwünscht. Heute, 2016. Mit der Potsdamer Erklärung (2014) und seinem neuen Leitbild (2015) vertritt der Verband deutscher Musikschulen (VdM) die Leitidee der Inklusion und verpflichtet sich, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft dergestalt zu unterstützen, dass sich der Verband selbst und alle seine Mitgliedsschulen zu inklusiven Einrichtungen wandeln. Ein kur­zer Blick zurück sei an dieser Stelle erlaubt, um die Bedeutung der Potsdamer Erklärung einordnen und die erforderliche Weiterentwicklung der Musikschulen als Chance und nicht als Angriff auf das Erreichte begreifen zu können.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2016.