Busch, Barbara / Eva Erben

Anfangsunterricht ohne Lehrwerk

Fünf Ideen aus der Praxis für die Praxis

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2010 , Seite 30

Instrumentalunterricht ohne ein gedrucktes Lehrwerk? Ein Gedanke, der viele InstrumentalpädagogInnen verunsichern mag. Doch der folgende Beitrag zeigt, welche Chancen sich ergeben, wenn man im ersten Unterrichtsjahr auf vorgefertigtes Notenmaterial verzichtet.

„Eine Unterrichtseinheit muss ein Erlebnis haben. Es muss etwas aufregend sein. Es muss Neugier wecken und Anteilnahme. Man muss eingreifen wollen. Das zweite ist: nachdenken, wie sich das mit dem, was wir vorher getan haben, vereint, woran das anschließt: also einordnen. Und das dritte ist: einüben, so dass ich auch darüber verfüge. Es ist mir nicht nur zufällig gelungen.“1 Mit wenigen Worten formuliert Hartmut von Hentig didaktische Leitgedanken, an denen sich auch der instrumentalpädagogische Unterrichtsalltag orientieren kann.
Aus diesen Leitgedanken kann eine Vielzahl methodischer Konsequenzen – zum Beispiel für den Anfangsunterricht am Klavier – gezogen werden. Wir beschränken uns auf zwei Konsequenzen, die unseren Unterrichtsalltag in den vergangenen Jahren enorm bereichert haben:
1. Die Neugier kann trefflich geweckt werden, wenn im ersten Unterrichtsjahr auf ein gedrucktes Lehr- bzw. Schulwerk verzichtet wird. Anstelle einer „Klavierschule“ hat jeder Schüler und jede Schülerin ein Notenheft, das Stunde um Stunde genutzt wird und so im Laufe des Jahres zur individuellen, persönlichen Klavierschule heranwächst.
2. Das bewusste Hören von Musik, das Singen und Bewegen sowie das Aufschreiben von Musik stehen gleichberechtigt neben dem Musizieren am Klavier. Dabei spielen die Relative Solmisation sowie die Rhythmussprache von Zoltán Kodály2 eine zentrale Rolle. Übergeordnetes Prinzip ist ein vielfältiger Umgang mit Musik, der die Lernenden über ihre spieltechnisch-musikalischen Fertigkeiten sicher verfügen lässt.
Welche Chancen ergeben sich, wenn im ers­ten Unterrichtsjahr auf ein gedrucktes Lehrwerk verzichtet wird und von der ersten Stunde an das selbstständige Notieren von Musik von den Schülerinnen und Schülern praktiziert wird?
Die Lehrperson hat die Möglichkeit, auf die individuellen Lernvoraussetzungen und auf das persönliche Lernverhalten eines jeden Schülers differenziert einzugehen.
Die Schülerinnen und Schüler entwickeln von der ersten Stunde an die Fertigkeit, musi­ka­lische Phänomene schriftlich abzubilden. So erfassen sie bewusst und anwendungs­be­zo­gen die Bedeutung musikalischer Schriftzeichen. Kurz: Die Fähigkeit des Notenlesens wird über das Notieren von Musik entwickelt.
In den folgenden fünf Ideen, die für den Klavieranfangsunterricht mit zwei Erstklässlern entwickelt und u. a. mit ihnen erprobt wurden, spiegeln sich sowohl die eingangs genannten Konsequenzen als auch die skizzierten Chancen wider. Wenngleich wir Einblick in konkrete Unterrichtsverläufe geben, so sind die Ideen vor allem als Anregungen zu verstehen, die entsprechend den jeweiligen Lehr- und Lernvoraussetzungen zu modifizieren sind. Zudem bleibt im Einzelfall zu entscheiden, ob sie sich als roter Faden kontinuierlich durch das erste Unterrichtsjahr ziehen oder aber punktuell eingesetzt werden.

1 Hartmut von Hentig: „Professor emeritus für Pädagogik, Gründer der Laborschule Bielefeld“, in: Reinhard Kahl: Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland ­Schulen gelingen, Hamburg 32006, S. 77.
2 vgl. Barbara Metzger u. a.: Der Globetrotter. Eine Reise durch die Rhythmen, Regensburg 2000, S. 2.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2010.