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Roth, Barbara

Anstoß zur Sebstreflexion

Zur motivationalen Wirkung von Übetagebüchern

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 18

Anders als konventionelle Tage­bücher sind Übetagebücher nicht geheim und bilden eine wichtige Grundlage für Gespräche zwischen InstrumentallehrerInnen und SchülerInnen mit dem Ziel, Übe­prozesse zu regulieren und zu optimieren. Doch wie gestalte ich ein Übe­tagebuch und welche Vor- und Nachteile sowie Herausforderungen bringt der Einsatz von Übetage­büchern mit sich?

Tagebücher werden seit Jahrzehnten im medizinischen Bereich und bei therapeutischen Prozessen (Physiotherapie, Psychotherapie) eingesetzt, beispielsweise um den Einfluss von Medikamenten auf das Befinden von PatientInnen zu dokumentieren. Im Bereich der Pädagogik sowie in der Forschung lässt sich der Einsatz von Übe- und Lerntagebüchern anhand von Aufsätzen und Publikationen in den vergangenen 25 bis 30 Jahren zurückverfolgen. Hier sind unter anderem Publikationen von Inge Seiffge-Krenke, Susanne Scherbaum und Nicole Aengenheister (1997),1 Peter Gallin und Urs Ruf (1998),2 Petra Merziger (2006)3 sowie Annette Weber-Förster (2008)4 zu nennen. Im vergangenen Jahrzehnt ist das Interesse noch weiter gewachsen, da Lern- und Übetagebücher als wichtiges Instrument zur Dokumentation von Stärken und Schwächen und vor allem von Lern- und Entwicklungsfortschritten im (Instrumental-)Unterricht erkannt wurden.
Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, dass uns bzw. unseren SchülerInnen das Üben manchmal sehr viel Freude und Lust bereitet, eine hohe Motivation vorliegt und auch länger geübt wird als ursprünglich geplant. In der Motivationspsychologie wird von motivational gesteuerten Übephasen gesprochen. Ebenso wissen wir, dass es Phasen oder auch Abschnitte im Übeprozess gibt, bei denen wir uns bzw. unsere SchülerInnen sich überwinden müssen und die (daher) anstrengend sind. Diese Phasen werden als willensgesteuerte Übephasen bezeichnet. Während des Übens kann es zum Wechsel zwischen den Phasen kommen. Ein Übetagebuch kann wichtige Einsichten dahingehend geben, welche Ursachen zu diesen Wechseln in der Art des Handelns führen. Davon ausgehend können Übetipps und Handlungsempfehlungen formuliert werden.

Vier Phasen der Handlungsorientierung

Im Zusammenhang mit Übe- bzw. Lerntagebüchern wird meistens der Begriff „selbstreguliertes Lernen“ benutzt. Meike Landmann und Bernhard Schmitz (2007)5 sowie Meike Landmann et al. (2015)6 sprechen davon, dass der Lernprozess aus „Planung, Self-Monitoring und Regulation“ bestehe. Bereits 1987 beschreiben Heinz Heckhausen und Peter M. Gollwitzer im sogenannten „Rubikon-Modell“, dass Handlungen aus einer natürlichen Folge von Abwägen, Planen, Handeln und Bewerten bestehen.7 Der Name des Modells ist von dem Fluss abgeleitet, den Cäsar 49 v. Chr. mit seinen Truppen überquerte und so den Bürgerkrieg gegen Pompeius auslöste. Als wichtigstes Merkmal des Modells gilt die Zäsur zwischen der Phase des Abwägens und der Entscheidung, da alle Prozesse vor Überquerung des Rubikons als motivational und die beiden Phasen nach der Überquerung als willensgesteuert beschrieben werden. Lediglich die abschließende Bewertung wird wieder als motivationale Phase angesehen.
Die Phase des Abwägens wird auch als prädezisionale (Motivations-)Phase bezeichnet. Hier werden Wünsche und Ziele im Hinblick auf Möglichkeiten und Konsequenzen der Realisierung beurteilt. Sobald eine Intention gebildet wurde, beginnt die planende Phase. Der Rubikon gilt als überschritten, denn ein Entschluss wurde gefasst und ein Ziel formuliert. Ab diesem Moment richtet sich alles Denken und Handeln auf die Zielerreichung.
In dieser planenden (präaktionalen) Phase werden alle Informationen gesammelt, die zur Realisierung der Absicht wichtig sind. Informationen, die Zweifel an einem Entschluss laut werden lassen – z. B. der Hinweis auf das täglich notwendige, eventuell mehrstündige Üben nach dem Entschluss, bei einem Konzert mitzuspielen –, werden ignoriert. Bei einer anstehenden Übephase ist dies der Zeitpunkt, zu dem die Übeziele festgelegt und ein Übetagebuch geführt werden sollte.
Die dritte Phase wird als aktionale (Willens-) Phase bezeichnet. Sie ist durch den Beginn und die Ausübung der Tätigkeit gekennzeichnet. Hier findet der im Zusammenhang mit selbstreguliertem Lernen beschriebene Prozess des Self-Monitoring statt. Die Handlung, hier das Üben, wird in der Regel so lange ausgeführt, bis die gesetzten Übeziele erreicht sind oder Ermüdung eintritt, sodass Pausen nötig werden. Intensität und Ausdauer dieser Phase können daher sehr unterschiedlich sein und hängen zusätzlich von Selbstbewertungsprozessen ab.
Nach Beendigung des Übens wird die vierte Phase, die postaktionale (Motivations-)Phase erreicht. In dieser wird das Üben sowohl im Hinblick auf vergangene als auch auf zukünftige Übeprozesse bewertet. Die oder der Übende befindet sich wie zu Beginn beim Abwägen wieder in einer motivationalen Bewusstseinslage. Soll der Einsatz eines Übe­tagebuchs zielführend sein, dann ist es wichtig, hier abschließend den Übeprozess zu bewerten und sich bereits Stichpunkte zu den Übeschwerpunkten für das nächste Üben zu notieren.
Zu beachten ist, dass es auch Übeverläufe gibt, bei denen alle Phasen der Handlung weitestgehend motivational gesteuert sind, das heißt ohne Willensprozesse ablaufen, und bei denen es sogar zum Flow-Erleben kommt. Dies wird in dem Modell außer Acht gelassen, ebenso die Tatsache, dass es beim instrumentalen Üben zu Verschachtelungen zwischen den Handlungsphasen kommen kann.

1 Inge Seiffge-Krenke/Susanne Scherbaum/Nicole ­Aengenheister: „Das ,Tagebuch‘: Ein Überblick über die Anwendung der Tagebuchmethode in Forschung und Therapiepraxis“, in: Gabriele Wilz/Elmar Brähler (Hg.): Tagebücher in Therapie und Forschung. Ein anwendungsorientierter Leitfaden, Göttingen 1997, S. 34.
2 Peter Gallin/Urs Ruf: Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik, Bd. 1: Austausch unter Ungleichen, Seelze-Velber 1998.
3 Petra Merziger: „Lerntagebücher beim Mathematik-Lernen nutzen. Die individuellen Zugänge zum Fachlernen stark machen“, in: Pädagogik, 58, 2006, S. 26-29.
4 Annette Weber-Förster: „Lerntagebücher“, in: Ingrid Kunze/Claudia Solzbacher (Hg.): Individuelle Förderung in der Sekundarstufe I und II, Baltmannsweiler 2008, S. 155 ff.
5 Meike Landmann/Bernhard Schmitz (Hg.): Selbst­regulation erfolgreich fördern. Praxisnahe Trainings­programme für effektives Lernen, Stuttgart 2015.
6 Meike Landmann/Franziska Perels/Barbara Otto/ Kathleen Schnick-Vollmer/Bernhard Schmitz: „Selbst­regulation und selbstreguliertes Lernen“, in: Elke Wild/ Jens Möller (Hg.): Pädagogische Psychologie, Berlin 22015, S. 45 ff.
7 zit. nach Anja Achtziger und Peter M. Gollwitzer: ­„Motivation und Volition im Handlungsverlauf“, in: Jutta Heckhausen/Heinz Heckhausen (Hg.): Motivation und Handeln, Berlin 32006, S. 278 f.

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