Fladt, Hartmut
Arten und Unartiges
Modi des Sprechens und Schreibens über Musik
Wir können Musik fühlen und nachfühlen, über Musik denken und nachdenken, folglich über Musik reden, und wir können, wenn es gut geht, auch über Musik schreiben. Das sind dann Versuche der Objektivierung von verschiedensten Arten der Subjektivität, in denen eine wundersame Mischung aus Emotionalem und Kognitivem, von Fühlen und Wissen, von gewussten Gefühlen und gefühltem Gewussten herrscht.
Können wir über Musik fühlen? Oder fühlen wir von Musik? Fühlen wir in Musik? Denkt und fühlt Musik selbst in uns, ist sie ein uns bisweilen fremd gegenübertretender komplexer Speicher von gesammeltem sinnlichen Wissen? Spiegelt Musik in unserem subjektiven und immer zugleich intersubjektiven Rezeptionsvermögen einen kognitiven wie emotionalen Sinn, Plausibilitäten, ja Logizitäten (den Begriff finde ich adäquater als den belasteten der „Logik“), aber ebenso eine sinnliche Unmittelbarkeit bis hin zum direkten körperlichen – grob gesagt – Überrumpeltwerden, dazu sehr viel Fantastisches, sinnvoll Unsinniges, kreativ Absurdes?
Alta, wovon redst du überhaupt? Hauptsache geil und geht ab.
Das überhöre ich erst einmal. Dieses vielfache In-Frage-Stellen ist mein metaphorisches Feigenblättchen des wissenschaftlichen Sprechens über Phänomene, die nur in immer wieder zu erneuernden Annäherungen an ihre wunderbare Vielfalt beschrieben werden können. Aber: Sie können. Und das muss nicht nur wissenschaftlich sein. Ohne sprach- und bildgeprägtes, zugleich körperliches metaphorisches Denken und Fühlen von und in Musik wäre ihre Rezeption unzulänglich. Und dass Metaphorik auch wissenschaftlich zu erfassen ist, sollte zu den Selbstverständlichkeiten gehören.
Leider kann ich Sie nicht verstehen. Könnten Sie mir das erklären?
Gern, versuchen wir’s mal. Das Sich-Retten in die Mystik eines Unsagbarkeitstopos wäre für mich eine bequeme Kapitulation, die in der Geschichte der ästhetischen Theorien nur zu oft im bewusst irrationalen (schönes Oxymoron) Geraune versumpfte. Sich den Mühen einer – an Hegel orientierten – „Anstrengung des Begriffs“ auszusetzen, kann ein viel reicheres Denken und Fühlen in und über Musik generieren. Alle diese Interdependenzen von Sprache, Denken und Musik sind in 2500 Jahren Philosophie und, mit ihr eng verbunden, Musiktheorie immer neu gedacht und beschrieben worden:
1. in der antiken Lehre von Ethos und Affekt, exemplarisch bei Platon und Aristoteles;
2. in den universitär seit dem Hochmittelalter für alle (!) Fächer grundlegenden „artes liberales“, dem sprachgebundenen Trivium und dem zahlgebundenen Quadrivium, zu dem die Musik zählt, die aber – als sprachvertonende – auch mit dem Trivium verknüpft ist;
3. in der medizinisch begründeten „Humoralpathologie“ der Temperamenten- und Affekten-Lehre, exemplarisch schon seit Tinctoris’ Complexus effectuum musices;
4. in den Theorien einer sich emanzipierenden „absoluten Musik“ seit dem späten 18. Jahrhundert;
5. unter den Prämissen eines sich – immer im Verbund mit ästhetisch-künstlerischen Fragestellungen – emanzipierenden wissenschaftlichen Diskurses interdependenter „Fächer“, die nicht mehr in den Grenzen von „Disziplinen“ befangen sind;
6. bis hin zu den gegenwärtigen durchaus kontroversen – und gerade darum sehr fruchtbar-anregenden – neurowissenschaftlichen Ansätzen.
Lieber Herr Professor, das brauche ich schriftlich, mit Primär- und Sekundärliteratur!
Diese fast einschüchternde Fülle des Denkens über Musik und des begrifflich-reflektierenden Sich-Annäherns an unterschiedlichste Arten von Musik verbindet sich mit der sinnlichen Erfahrung dieser Musik, die so wissenschaftsgeschichtlich gespiegelt ist – und die wir uns durch die fast unbegrenzt zur Verfügung stehende mediale Omnipräsenz im digitalen Zeitalter durch wenige Clicks vor Ohren führen können.
Digital und Click hamwa verstann’, aba was soll der Rest?
Was tun? Also, ein kurzes „Credo“ meiner ganz persönlichen Erfahrungen des Redens und Schreibens über Musik: lieber über- als unterfordern; dabei nie eine Regression des „Stammelns“; beharrlich eingestreute Erkenntnisse und Begrifflichkeiten von Materialgrundlagen und musikalischen Verfahrensweisen, aber auch von den Wirkungsweisen, wie Musik emotional aufgenommen wird – sie sind ja ebenso selbstverständlich, wie wir auch in die Sprache hineinwachsen; das alles wird gern nicht nur gehört, sondern auch zur Kenntnis genommen, und es kann sich zur Er-Kenntnis verdichten.
Über eine Motette von Josquin, einen R&B-Song der Stones, eine Fuge von Bach, Volksmusik aus Sardinien, HipHop, Filmmusik, eine komplexe Komposition von Ligeti kann, nein, muss ich auf sehr unterschiedliche Weise mit den ja ebenfalls sehr unterschiedlichen Zielgruppen sprechen. Alle diese musikalischen Gebilde haben auf den verschiedenen Ebenen für alle Gruppen sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte von Unmittelbarkeit, die auf ihren gespeicherten Hörgewohnheiten und Präferenzen basieren; dort muss ich sie „abholen“. Dazu einige Beispiele einer „erkenntnistheoretischen Popular-Metaphorik“:
– Die „Gewalt der Metaphern“ dominiert nicht nur beim umgangssprachlichen Reden und Schreiben über Musik. Exemplarisch dafür „Kopf und Bauch“: bis in seriöseste Artikel über erhabenste Gegenstände finden wir Körpermetaphorik jeglicher Art – und dass auch KomponistInnen sogar einer sehr neuen Neuen Musik sich kaum dagegen wehren können – warum auch? –, kann ich nicht nur aus eigener Anschauung bezeugen.
– Für wen schreibe ich? Auf wen muss/darf ich überhaupt Rücksicht nehmen? Welche Imagination von potenziell Lesenden bestimmt meine Schreibweise, mein Vokabular, meinen Satzbau, die Zielrichtung meiner Argumentation?
– In welchem medialen Kontext steht das? Muss ich da überhaupt argumentieren, und das auch noch zielgerichtet?
– Ich? Wer bin ICH, als ein für Sie in einer musikpädagogischen Zeitschrift für künstlerisch-pädagogisch-wissenschaftlich verantwortliche MultiplikatorInnen Schreibender?
– Was von meinem vielfältig und umwegig angelegten, ja angehäuften Wissen darf oder muss ich aktivieren, damit Sie mit einem neu erworbenen multiplikatorischen Pfund wuchern können? Ist dieses für mich selbstverständlich gewordene Wissen und meine sehr persönliche Umgehensweise damit für Sie verständlich, akzeptabel, vielleicht sogar überzeugend? Wie verträgt es sich mit Ihrem Wissen, Ihren Überzeugungen?
Wie locker und zugleich informativ muss ein Programmhefttext für die Berliner Philharmoniker sein, der aber vor das besondere Problem gestellt ist, dass es sich hier um Konzerte jener exquisiten Philharmoniker handelt, die auf ihr Programm alle nur denkbaren Grenzüberschreitungen zum Jazz und zu improvisierter (oder aber schlagzeugdominierter) Musik gesetzt haben? Wenn ich im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ für radio eins in Berlin über Popmusik spreche, benötige ich eine andere Sprache – die aber immer noch wissenschaftlich fundiert ist – als bei meiner wöchentlichen musikanalytischen Live-Sendung bei diesem Sender; ein Vortrag für eine 8. Klasse in der Schule muss ebenso verantwortungsvoll „korrekt“, aber anders strukturiert sein als ein solcher im Museum für Kommunikation über den Goldenen Schnitt in der Musik und den anderen Künsten, der auch publiziert wird.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2019.