Seidel, Sabine / Regula Schwarzenbach

Atem als Spiegel des Lebens

Die Methode Atem-Tonus-Ton im Gesangs- und ­Instrumentalunterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2011 , Seite 30

Atmen kann man doch einfach! – Ja, schon. Aber gerade für singende und musizierende Menschen ist die Arbeit mit dem Atem unentbehrlich, faszinierend, spannend, manchmal auch verwirrend. Es lohnt sich daher ein Blick hinter die Kulissen des Phäno­mens “Atem”.

Singende und musizierende Menschen haben mit dem Atem in mehrfacher Hinsicht zu tun. In erster Linie ist die Atmung eine lebens­wichtige, über das vegetative Nerven­system gesteuerte Körperfunktion, die autonom und weitgehend unbewusst abläuft. Verschiedene innere und äußere Umstände können das komplexe Atemgeschehen aus dem Gleichgewicht bringen, was die Leis­tungsfähigkeit einschränkt.1 Da die gesamte Atemmuskulatur jedoch ebenfalls über das somatische Nervensystem gesteuert wird, lässt sich der Atem auch willkürlich beeinflussen. Dies wird für Gesang und Instrumentalspiel gezielt genutzt. Der Atem wird zum Werkzeug für Stimm­einsatz, Klangformung, für Legato, Phrasierung und die viel diskutierte Stützfunktion. Dazu ist es nötig, die vegetativen Abläufe des Atems bewusst und geplant beeinflussen zu können und durch Training zu kultivieren.

Atem als Persönlichkeitsmerkmal

Atem ist Spiegel des Lebens, des Geworden-Seins, der aktuellen Lebenssituation, der psychischen und physischen Konstitution und Tagesform. Der Atem zeigt sich in Körperhaltung und -spannung, in Bewegung, Geste und Stimme. Er verbindet Körper, Geist und Psyche. Im Atem zeigt sich, was sich im Lauf der Biografie „verkörpert“ und zu komplexen Mustern ausgeprägt hat. Damit ist der Atem, der in die Musik fließt, wesentlicher Ausdruck der Persönlichkeit.
Natürlicherweise sind Atem- und Körperbewegung nicht voneinander zu trennen. Durch Sozialisation, Leistungsorientierung und Intellektualisierung wird ihr natürliches Zusammenspiel allerdings immer wieder gestört. Dies kann auch beim Aufbau einer musikalischen Atemtechnik geschehen. Künstliche, vom Intellekt gesteuerte Konstrukte, die nicht auch auf Körperbewusstheit gegründet sind, können die vitale Kraft und Lebendigkeit, auch die physiologische Intelligenz des Atems beherrschen und beschränken. Nämlich dann, wenn Unsicherheit, Übertreibung und Kontrolle in der technischen Arbeit zu Fixierungen in verschiedenen Atemmuskulaturen führen. Diese verspannten Muskeln stehen dann kaum mehr für die natürliche Atembewegung und -schwingung zur Verfügung. Der Atem wird instrumentalisiert und damit von der körperlichen und seelischen Natur der Musikerperson abgekoppelt.
Dies führt oft zu Verwechslungen im Körper, zu Verwirrungen im Kopf, zu Instinktverlust und Abhängigkeit von den Lehrpersonen: „Wie soll ich denn nun atmen?“ Ziel der Atemarbeit ist es, durch Körperbewusstsein eigenverantwortlich eine Brücke zwischen Natur und Kultur zu bauen. Graf Dürckheims Aussage: „Es atmet der Mensch – nicht nur das Zwerchfell, nicht die Lunge, nicht der Bauch. Es atmet der Mensch“, bringt auf den Punkt, was wir alle wissen: Der Mensch, der atmende, der singende und musizierende, ist nur in seiner Gesamtheit von Körper, Geist und Psyche zu verstehen.2

1 umfassende Erläuterungen zur Atemphysiologie in: Norbert Faller: Atem und Bewegung, Wien 2009, S. 207.
2 zeitgemäße, inspirierende Ausführungen zu den Wechselwirkungen von Körper und Psyche finden sich bei: Maja Storch u. a.: Embodiment, Bern 2006.

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