Terpitz, Felicia

Atmen und Klopfen

Mentale und körperliche Ansätze zur Vorbeugung und Behandlung von Auftrittsängsten

Rubrik: Gesundheit
erschienen in: üben & musizieren 2/2024 , Seite 36

Auftrittsängste gehen uns alle an. Sie treten in verschiedensten Situationen und unterschiedlichsten Formen auf. Von Übelkeit drei Tage vor der Darbietung bis zu zitternden Händen, Kloß im Hals und Störgedanken ist Auftrittsangst so individuell wie diejenigen, die von ihr betroffen sind. Auftrittsängste müssen jedoch nicht schicksalhaft hingenommen werden. Sowohl auf mentaler als auch auf körperlicher Ebene gibt es Wege, die Angstspirale zu durchbrechen.

Erfreulicherweise leben wir in einer Zeit, in der über seelische Leiden wie Depressionen und Ängste zunehmend gesprochen wird. Dennoch ist das Thema Auftritts- und Prüfungsangst weiterhin schambesetzt, und Betroffene zögern häufig zu lange, bis sie sich Hilfe suchen.1 Daher wäre gerade unter Lehrenden im Berufsfeld Musik eine höhere Sensibilität für dieses Thema und ein offenerer Umgang mit unter Leistungsdruck auftretenden Stresssymptomen bzw. Ängsten wünschenswert und hilfreich.
Auch jenseits von Bühnenauftritten können bestimmte Situationen eine Art Auftrittsstress auslösen – wie ein Anruf bei Behörden, eine Wortmeldung in großer Gruppe, Prüfungen, Referate oder das erste Date. Schülerinnen oder Schüler erleben Auftrittsstress, wenn sie vor der Lehrperson und ihren Mitlernenden Leistung erbringen müssen und sich damit einer Bewertungssituation aussetzen. Die Lehrperson kann Stress erleben, weil sie sich in ihrer Autoritätsrolle unter „prüfender Betrachtung durch andere Menschen“ fühlt.2 Verstärkt erlebt wird dies in Prüfungssituationen wie Lehrproben, wenn die Lehrkraft sowohl gegenüber der prüfenden Person als auch gegenüber den SchülerInnen Leistung erbringen soll. Auftrittsangst kann hier zu dem Gefühl von Kompetenzverlust beim Unterrichten führen.

Leistung unter Druck

Ob Leistungsdruck im Moment des „Auftritts“ als fordernd, stressig oder beängstigend wahrgenommen wird, ist sehr individuell und hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. „In Drucksituationen sind auch selbstbewusste Menschen oftmals so angespannt, dass sie beginnen, an sich zu zweifeln. Diese Zweifel manifestieren sich dann nicht selten in ungewohnten Leistungstiefs, und das in Momenten, in denen eigentlich Höchstleistungen erwartet werden.“3 Von Auftrittsängsten betroffene Menschen leiden meist unter einem situationsbezogenen Mangel an Selbstwert.4 Negative Auftrittserfahrungen brennen sich tief in das Körpergedächtnis ein und entziehen sich dem Zugriff durch das bewusste Denken. So können sich Auftrittsängste dauerhaft manifestieren. „Auftrittsangst kann so stark beeinträchtigen, dass eine Karriere als Musiker abgebrochen werden muss oder gar nicht erst angestrebt wird“, so Sabine Meyer im Geleitwort zum Behandlungsleitfaden „Auftrittsängste“.5

Mentales Training

Bewertende Phänomene und zweifelnde Gedanken („Vögelchen im Kopf“ oder „innerer Kritiker“) ohne körperliche Symptome, die bei vielen Menschen regelmäßig zu Leistungsminderung in Auftrittssituationen führen, werden leider selten als Teil der Lampenfiebersymptomatik wahrgenommen, sind jedoch Wegbereiter für Auftrittsangst. Hier können Übungen aus dem mentalen Training Abhilfe schaffen. Dieses umfasst eine Bandbreite von Übungen zur Entspannung, Körperwahrnehmung, Konzentration und Motivation sowie Visualisierungstechniken, die sowohl für das Training von Bewegungsabläufen als auch für die Entwicklung mentaler Stärke genutzt werden. Auch das Zusammenspiel von Ernährung, Schlaf, Freizeit und Erholung sowie von psychologischen Komponenten wird betrachtet.
Das mentale Training von Bewegungsabläufen (Mentales Üben) fördert nicht nur die Abrufbarkeit von Leistung unter Druck, sondern ist auch als Prophylaxe von Auftrittsstress und körperlichen Problemen beim Musizieren wertvoll.6 Im Leistungssport ist mentales Training seit Jahren Standard. Trainingsmethoden und Übungen lassen sich gut auf die Musik übertragen, denn im Wesentlichen geht es auch hier um Bewegungspräzision und Abrufbarkeit der trainierten Abläufe unter Leistungsdruck. Die im Folgenden skizzierten Übungen aus dem Mentaltraining wirken beruhigend und ausgleichend auf das Nervensystem und fördern die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit des Gehirns.

Bewusstes Atmen

Beobachten Sie die eigene Atmung ohne Einflussnahme. Es geht vor allem darum, nach einem tiefen Ausatmen den Körperimpuls für das erneute Einatmen bewusst wahrzunehmen. Meistens beruhigt sich der Atem im Laufe der Übung allein durch die bewusste Wahrnehmung. Bewusstes Atmen kann auch als Unterstützung z. B. für eine ruhige Bogenführung eingesetzt werden.

1 Auftrittsangst wird unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten als eine Untergruppe der sozia­len Angst klassifiziert. Bei den Betroffenen tritt diese spezifische Angst ausschließlich im Zusammenhang mit „Leistungssituationen“ auf („performance-only subtype“). Laut ICD 10 ist der Auslöser (wie bei der sozialen Phobie) die „Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen“. Der Behandlungsleitfaden Auftrittsängste bei Musikerinnen und Musikern empfiehlt bei schwerwiegenden Auftrittsängsten eine Verhaltenstherapie. Diese wird von den Krankenkassen bezahlt, allerdings muss mit langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz gerechnet werden. Vgl. Mumm, Jennifer et al.: Auftrittsängste bei Musi­kerinnen und Musikern. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsleitfaden, Göttingen 2020, S.17 ff.
2 vgl. Mumm, S. 19.
3 Bergmann, Mark/Reinhardt, Christian: Der Er­folgsmuskel. Mentales Training, das dich ans Ziel bringt, Igling 2019, S. 132.
4 vgl. Mumm, S. 24 ff.
5 vgl. ebd., S. 11: Sabine Meyer: Geleitwort.
6 vgl. Hildebrandt, Horst: „Üben und Gesundheit“, S. 72 f. und Pohl, Christian A.: „Mentales Üben“, S. 287 ff. in: Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben, Wiesbaden 2006.

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