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Arendt, Gerd

Auf dem Weg zur Partitur

Ein neues Konzept für den Streicherklassenunterricht von Birgit und Peter Boch

Rubrik: Didaktik
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 52

„Wir brauchen im Streicherklassen­unterricht dringend Lehrmaterial, das sich an der aktuellen Schulwirklich­keit orientiert“, so das Ehepaar Boch, seit nunmehr fast 30 Jahren eine musikdidaktische Instanz im Bereich Streicherklasse. „Es muss in erster Linie um Musikunterricht gehen – und nicht nur um das reine Erlernen eines Instruments!“

Lange Zeit förderte die Fokussierung auf kurze musikalische Phrasen in der Streicherklassenmethodik weder binnendifferenzierte Unterrichtsgestaltung noch orchestrales Denken. Dabei müsste, so Peter Boch, „die Unisono-Schulung als Ansatz längst überwunden sein“. Eine „frühe Polyfonie-Orientierung“ – etwa im Rahmen von Kanons und konstanter Arbeit mit zweiten, durchaus auch kontrapunktischen Stimmen – sei allein schon aufgrund ihrer ästhetischen Funktion didaktisch wesentlich hilfreicher. Es gehe darum, so Peter Boch, „das eigenständige Wesen“ jedes einzelnen Streichinstruments für alle erfahrbar zu machen.
Kinder kommen heute in der Regel ohne Notenkenntnisse in die fünfte Klasse. Notenlernen und ein Verständnis für den „gemeinschaftlichen Bau von Klängen“ seien daher von Anfang an unabdingbar. „Für manche tun sich schon neue Welten auf, wenn sie lernen, dass auf der G-Saite auch ein ,A‘ zu Besuch sein kann“, so Birgit Bochs Erfahrung. „Der aktuelle Streicherklassenunterricht erfordert eine wesentlich differenziertere Eingangsphase als früher“, analysiert Peter Boch die Lernvoraussetzungen der Kinder. Insbesondere motorische Probleme nähmen einen viel größeren Raum ein als noch vor 15 Jahren. Deswegen trüge ihr neues didaktisches Konzept dieser Situation im besonderen Maße Rechnung. Das Ziel sei, den Kindern methodisch behutsam einen ganzheitlich gedachten Musikunterricht angedeihen zu lassen.

Ein Konzept macht Schule

Besuch in einer fünften Klasse am Gymna­sium St. Michael in Ahlen, der langjährigen Wirkungsstätte von Birgit und Peter Boch. Aus deren einstigem Unterrichtsmodell, einer didaktischen Fusion aus Rolland-Methode und Tonika-Do-Elementen von Kodaly, ist ein ausgeklügeltes Theorie-Praxis-Konzept hervorgegangen. Wer sich mit dem aktuellen Lehrerband1 des Ehepaars beschäftigt, ahnt bereits, dass deren angestrebte „Ganzheitlichkeit von Streicherklassenunterricht“ mit einer aufeinander aufbauenden Rhythmisierung der Stunden einhergehen wird.
Trotz einer Vielzahl unterschiedlicher Substrukturen gibt es jedoch keine Brüche zwischen den einzelnen Unterrichtsphasen. Jede Phase trägt in ihrem Binnenablauf ritualhafte Züge, was bei den Schülerinnen und Schülern für Kalkulierbarkeit sorgt. Entsprechend der Diversifikation der Lerngegenstände pro Unterrichtsstunde (z. B. Theorie, Handhaltung, Singen oder Ensemblespiel) wird jedem Kind zudem ermöglicht, seine eigene „Lieblingsdisziplin“ zu finden, was sich augenscheinlich positiv auf die Individualisierung der Lernprozesse und die Lernatmosphäre auswirkt.

Phase eins
Zum Unterrichtsbeginn in der ersten Stunde der Schulwoche wird die sogenannte Stimmzeit stets mit einer musiktheoretischen Übungsaufgabe verbunden. In dieser Unterrichtsstunde lautet der Arbeitsauftrag, Noten in drei unterschiedlichen Schlüsseln zu benennen. Zusätzlich sind die Saiten und Spielfinger dieser Töne für das eigene Instrument kenntlich zu machen, beispielsweise „G/3“ für ein „H“ im Bassschlüssel auf dem Cello, „A/1“ für den gleichen Ton im Bass oder auch ein „G/3“ für ein „C“ auf der Violine im Violinschlüssel. So werden neben der theoretischen Schulung (= drei verschiedene Schlüssel) auch Klang und Fingersatz imaginiert, jedes Kind arbeitet dabei in seinem eigenen Lerntempo.
Währenddessen kommen einzelne Schülerinnen und Schüler nacheinander mit ihrem jeweiligen Instrument zu den beiden Lehrkräften, welche dann beim Stimmen unterstützen. Diese „Einstimmung“ ist auch musikalisch zu begreifen, da neben der in Einzel­arbeit zu lösenden Theorieaufgabe zeitgleich die ersten Streicherklänge ertönen. Die schriftlichen Lösungen werden dann im Plenum besprochen, wobei die Kinder gerne Auskunft über ein anderes Instrument als das eigene geben sollen, damit sich polyfones Denken als entsprechende Repräsenta­tion2 im Musikverständnis der Kinder manifestieren kann.

Phase zwei
Alle üben nun stumm den Fingersatz ihrer Stimme aus der theoretischen Aufgabe, allerdings nicht auf dem Instrument. Der rechte Handrücken ersetzt das Griffbrett, die linke Hand trainiert auf ihm die Fingerabfolge. Einzelförderungen sind durch die ruhige Arbeitsatmosphäre problemlos möglich. Ein besonderes Augenmerk gilt der Vorbereitung der Intonation von Ganz- und Halbtonschritten. Ganztonschritte werden oft – und gerade auch später auf dem Instrument – zu eng gegriffen. Bereits das Heben und Senken mehrerer Finger gleichzeitig (schon beim Ganztonschritt 1-3 (Vc) bzw. 1-4 (Kb) erforderlich) könne ein Problem darstellen, das zeige die langjährige Unterrichtspraxis, berichtet Birgit Boch. Es gehe um „Stabilität einerseits und Flexibilität andererseits bei der Handhaltung – und natürlich auch um eine adäquate Körperspannung“.

Phase drei
In diesem Unterrichtsteil werden nun die unterschiedlichen Fingersätze von allen Kindern parallel gesungen (2 – 2 1 bei den Bässen, 0 – 0 3 bei den Celli und 0 – 0 2 bei Bratschen und Violinen), die Klasse ist in zwei Parteien (Bässe/Celli und Bratschen/Violinen) aufgeteilt, wodurch den jeweiligen Fingersätzen Rechnung getragen wird. Durch das Team-Teaching ist dies problemlos möglich. Es entsteht ein orchestrales Klangbild, die Kinder lernen dabei spielerisch, dass beispielsweise beim Bass auch mal der zweite Finger (statt wie bei den anderen die Leersaite) zum Einsatz kommt. Das „mantrahafte“ Singen des Fingersatzes hat dabei eine flankierende Funktion in Bezug auf die Vorstellungskraft, was der späteren spielerischen Praxis im Unterricht zugutekommen soll.

Phase vier
Erst jetzt wird das erste Mal an diesem Tag das Instrument in die Hand genommen. Etwa die Hälfte der Stunde (20 Minuten) ist vergangen, bislang stand vor allem angewandte Theorie im Fokus. Als erste Praxisaufgabe zupfen nun die einzelnen Instrumentengruppen ihre jeweilige Stimme und führen diese den Mitschülerinnen und Mitschülern vor. Dann kommen nacheinander die anderen einzelnen Stimmen dazu, bis im Plenum schließlich gemeinsam pizzicato gespielt wird. Noch immer ruht der Bogen. Das Gruppen-Klangbild ist nun auch erstmalig über das instrumentale Zusammenspiel verankert, außerdem können die Griffübungen aus Phase zwei nun haptisch umgesetzt werden. Durch das Pizzicato herrscht weiterhin viel Ruhe und Konzentration.

Phase fünf
Jetzt nehmen alle Kinder den Bogen in die rechte Hand, die korrekte Handhaltung wird in jeder Musikstunde thematisiert. „Die Schwierigkeiten, die rechts vorhanden sind, überlagern oft die der linken Hand“, erläutert Birgit Boch. Besonders achte sie auf die drei Items Klang (Strich), Rhythmus und Saitenübergänge. Die erste Bogenübung des heutigen Tages setzt zunächst auf ein Klangerlebnis. Die Bässe streichen Viertel auf der tiefen E-Saite, die Celli kommen mit der G-Saite dazu, die Mollterz schwingt beeindruckend durch den Raum. Die Bratschen und Geigen streichen nun auch jeweils dazu ihre G-Saiten, das Orchester findet zueinander, jedes Kind scheint sich verantwortlich für den Klang der Gruppe zu fühlen. Das stärke auch die Klassengemeinschaft, so Peter Boch, „Ensembletätigkeit muss in der Post-Corona-Zeit neu erlernt und erfahren werden“.
Aber auch diese Phase springt aus der ursprünglichen Partitur heraus, sie fungiert als „Klanginsel“, als kleiner, nur scheinbar sachfremder „didaktischer Aufheller“, um der Aufmerksamkeitskurve der Kinder spielerisch eine Auszeit zu gönnen.

Phase sechs
Zum Stundenfinale verschmelzen Partitur, Fingersätze und Orchester. Die unterschiedlichen Phasen kulminieren in einem Endergebnis, das nichts anderes ist als das vorab definierte Stundenziel; die Stunde war der Weg dorthin. Jetzt dürfen alle den erlernten Abschnitt (er ist übrigens Teil eines längeren Stücks) gemeinsam spielen. Als „Belohnung“ ergänzt Peter Boch die Klavierbegleitung samt einem kleinen Präludium. Birgit Boch spielt dazu mit fortgeschrittenen Kindern ­eine zweite Stimme. Die soll dann in der nächsten Stunde von allen geübt werden. Schließlich verabschieden sich die Kinder in die Pause und machen sich einen Spaß daraus, ihre Fingersätze zu rekapitulieren und zu singen.

Mehrwert für alle(s)

„Unabhängig davon, wie sich die Pandemie-Situation im Laufe des Schuljahres entwickelt, ist es unser oberstes Ziel, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an ihren individuellen Lernentwicklungen und Lernerfahrungen abzuholen, Lernfreude (neu) zu beleben und die Schul- und Klassengemeinschaften wieder zu festigen“, heißt es im Förderprogramm des Schulministeriums NRW.3 Ohne Zweifel trägt das ganzheitliche Konzept von Birgit und Peter Boch auch diesen aktuellen Vorgaben des Schulministe­riums Rechnung. Der Münsteraner Verhaltensforscher und Psychologe Alfred Gebert ergänzt: „Die Bereitschaft zum Lernen ist bei Kindern immer dann besonders groß, wenn sie auf positiven ästhetischen Erfahrungen fußt. Wenn ich in einer Streicherklassenstunde viele ­unterschiedliche Eingangskanäle aktivieren kann, gewährleiste ich individuelle Erfolgs­erlebnisse und werde so auch heterogenen Lerngruppen gerecht.“
Ein weiterer Nebeneffekt: Es entsteht bei den Kindern Motivation, am Nachmittag in einem Orchester mitzuspielen. „Es ist uns wichtig, dass unser Streicherklassenunterricht anschlussfähig bleibt“, betont Birgit Boch. Im Übrigen komponiert die Musikpädagogin den überwiegenden Teil des Unterrichtsmaterials selbst. „Im ersten Unterrichtsjahr des Streicherklassenunterrichts funktionieren Stücke besonders gut, die in einer Tonart bleiben, einen begrenzten Tonumfang haben (anfangs nicht mehr als eine Quinte), rhythmisch maximal eine Veränderung erfahren und vor allem aufgrund einer schönen Melodie (zunächst in der Klavierstimme) einprägsam bleiben“, erläutert sie. Nach und nach werden durch die Erarbeitung von Strich- und Griffarten sowie Artikulationen die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten erweitert. Es fließt dann auch Originalliteratur oder deren Bearbeitung stärker ein.
Und tatsächlich: Bei einem weiteren Besuch in Ahlen, dieses Mal in einer siebten Klasse, ist eine fünfstimmige Adaption des vierten Satzes von Tschaikowskys 4. Sinfonie in Arbeit, die Intonation bemerkenswert. Offensichtlich schreiten auf dem Weg zur Partitur alle hier mit großen musikalischen Schritten voran.

1 Boch, Birgit und Peter: Streicher sind Klasse. Schule für Streicherklassen und Gruppenunterricht, Mainz 2021.
2 vgl. Gruhn, Wilfried: „Lernen und Motivation“, in: ders.: Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens, Hörens und Lernens, Hildesheim 1998, S. 206.
3 www.schulministerium.nrw/extra-blick (Stand: 20.4.2022).

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