Loskill, Jörg

Auf den Tasten die Abenteuer der Gegenwart entdecken

Das neue Education-Projekt „Piano Book“ des ­Klavierfestivals Ruhr bringt zeitgenössische Komponisten und KlavierschülerInnen zusammen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 36

Als Franz-Xaver Ohnesorg vor Jahren von Köln nach Essen und damit in die Intendanz des Klavierfestivals Ruhr wechselte, versprach er – neben vielen klassischen Höhepunkten von Beethoven bis Schubert, von Brahms bis Mozart oder Rachmaninow – einen bildungs- und musikpolitischen Akzent: die (musikalische) Jugend in diesen beispielhaften Stafettenlauf der internationalen Tas­ten-Elite so stark wie bei keinem anderen Musikfestival einzubeziehen. Ausdruck dieser Konzeption war und ist das Education-Programm, das ganz unterschiedliche Zielsetzungen und Kontakte beim Lehren, Lernen und Entdecken aus Sicht junger Menschen kennt. Die bisher bereits mit Leben und Inhalt gefüllten Schlagworte für diesen Bereich des Festivals zwischen Moers und Hamm, Mülheim und Gelsenkirchen, Bottrop und Essen, Duisburg und Bochum lauten „Little Piano School“ (das Klavier als „Spielplatz“ für die ganz Jungen), „Discovery“ (Entdeckungen neuer Klavierwerke durch eigene kreative Impulse mit interdisziplinärem Ansatz), „Encounters“ (Begegnungen mit renommierten Solisten in Werkstatt-Dialogen) oder Kinder- und Familienkonzerte mit zugleich hohem und unterhaltsamem Anspruch.
Sie alle wollen interessierte und talentierte Kinder und Jugendliche an die (Klavier-)Musik heranführen und sie dazu anleiten, ihre eigenen Potenziale kennen zu lernen, auszuschöpfen und zu profilieren. Dafür engagierte Ohnesorg den Musikpädagogen Tobias Bleek, der diese kultur- und bildungspolitische Abrundung des Klaviermarathons klug und vielseitig als Leiter betreut. Dieser wiederum holte sich u. a. Kräfte wie Claudia Eckes-Kohlrautz, Kim Monika Wright oder den Dokumentarfilmer E. Sanchez Lansch ins Boot. Musik als Gesamt- und Gemeinschaftserlebnis, das junge Leute fördert und fordert, ihnen dadurch ein eigenes Profil verschafft – das firmiert seit 2007 als intellektueller und sozialer Überbau in der Theorie und in der praktischen Übung. Die Gastdozenten in diesem musikpädagogischen Lehrbuch hießen u. a. Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich. Jung und alt studierten gemeinsam Stücke von György Ligeti, Elliott Carter, Vassos Nicolaou oder George Benjamin ein.
Jüngstes Modell dieser komplexen und prozessualen Überlegungen und praxisorientierten Konditionen beim Festival 2010: das „Piano Book“, ein spezieller Dialog zwischen Virtuosen-Prominenz, zeitgenössischen Komponisten und KlavierschülerInnen. Zusammen werden neue Werke erprobt, die am Ende der Exerzitien von den Teilnehmern aufgeführt werden. Von diesen Einstudierungen werden Mitschnitte für ein animierendes Klavierbuch aufgenommen, das anschließend Lehrkräften, Musikschulen und jungen Pianisten zur Verfügung steht. Franz-Xaver Ohnesorg: „Wir wollen uns und anderen damit Mut machen, Gegenwartskomponisten, internationale Solisten und talentierte Jugend an einen Tisch, an ein Klavier zu bringen.“
Als Komponisten für das 2010-Projekt stehen mit neuen Stücken bereit: George Benjamin, York Höller, Hanspeter Kyburz, Johannes B. Borowski, Marco Stroppa, Olav Lervik, Luke Bedford und Vassos Nicolaou. Sie schreiben jeweils eine zweihändige und eine vierhändige Klavierfassung, wobei ein Part so gestaltet ist, dass er auch von SchülerInnen bewältigt werden kann. Aimard und „Assistentin“ Stefanovich bleiben die beiden namhaften DozentInnen, die sich dieser besonderen Aufgabe stellen. Von Mai bis Juli studieren sie mit den jeweiligen Eleven die Werke ein. Am 9. Juli kommen alle Partner dieses Piano-Book-Projekts im Kammermusiksaal der Essener Folkwang-Universität zu einem Intensivkurs zusammen. Tobias Bleek, der Musiker-Mediziner Hans-Christian Jabusch (Dresden) und Komponist Vassos Nicolaou widmen sich in Vorträgen und Moderationen
u. a. den Themen „Komponieren für Kinder“ oder „Dem Gehirn auf die Finger geschaut – Die Neurologie des Musizierens und Konsequenzen für die musikalische Ausbildung“.
Der Studientag wendet sich an PädagogInnen, Studierende, Multiplikatoren und das allgemeine Musikpublikum nebst Förderern. Das Kennenlernen der neuen Werke, die mit der Jugend erarbeitet werden, steht letztlich im Zentrum.
Am 12. Juli kommen die Kompositionen des ersten „Piano Book“ in Essen zur Uraufführung. Zielsetzung des gesamten Projekts: „Wir wollen Klavierpädagogen anregen, sich mit dieser neu erarbeiteten Literatur zusammen mit jungen Menschen zu beschäftigen.“ Und Bleek ergänzt: „Dem Neuen das Fremde oder sogar den Schrecken zu nehmen, gehört zu unserer Vision für das Projekt innerhalb unseres breit gefächerten Education-Programms. Durch das Gespräch mit Komponisten und durch die Zusammenarbeit mit den internationalen Klavier-Stars können wir ein neues, frisches Interesse wecken.“ Auf allen Seiten.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2010.