Borchert, Johanna
Auf der Suche nach Mitgliedern
Zum Umgang mit gesellschaftlichem Wandel in Blasmusikvereinen
Gesellschaftliche Entwicklungen stellen musikalische Vereinigungen zunehmend vor Herausforderungen. Sie erfordern Veränderungen im Spannungs- feld zwischen Innovation und Tradition. Wie Blasmusikvereine diesem Wandel begegnen, wird basierend auf Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt „Musikvereine als Orte kultureller Bildung“ (MOkuB) gezeigt.
In Deutschland haben musikalische Vereinigungen1 eine lange Tradition. Sie sind fester Bestandteil der kulturellen Landschaft und des bürgerschaftlichen Engagements sowie Orte des Musikmachens und -lernens vor allem in ländlichen Räumen.2 So machen z. B. in Baden-Württemberg Chöre und Orchester mit 40 Prozent den größten Anteil des kulturellen Angebots auf dem Land aus.3 Einige musikalische Vereinigungen richten Dorffeste aus, spielen zu kirchlichen und außerkirchlichen Anlässen, zu Konzerten, Wettbewerben und haben ihre eigenen musikalischen Ausbildungs- und Prüfungsstrukturen.
Lorenz Overbeck schrieb 2018 von 11000 musikalischen Vereinigungen, die in der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände e. V. organisiert waren. Diese umfassten 1,3 Millionen MusikerInnen, darunter rund 350000 Kinder und Jugendliche.4 Auch wenn durch die Corona-Pandemie mit einem Rückgang dieser Zahlen zu rechnen war, so ist die Verteilung doch ähnlich geblieben. Der Schwerpunkt liegt in den südlichen Bundesländern.5 Im Süden und Westen Deutschlands gibt es zudem deutlich mehr Blasmusikvereine als im Rest Deutschlands, im Norden und Osten hingegen sind anteilig mehr Chöre vorzufinden. Abseits von Vokal- und Blasmusikvereinigungen gibt es in Deutschland auch seltenere musikalische Vereinigungen wie zum Beispiel Zupf- oder Akkordeonorchester.
Gesellschaftliche Veränderungen
Gesellschaftliche Veränderungen stellen musikalische Vereinigungen trotz ihrer großen kulturellen Bedeutung vor Herausforderungen und damit zum Teil ihre traditionelle Struktur und Funktionsweise in Frage.
– Der demografische Wandel trifft musikalische Vereinigungen aufgrund ihres Schwerpunkts in ländlichen Räumen besonders hart. Das Verhältnis zwischen jungen und älteren Menschen verschiebt sich durch vermehrten Wegzug junger Menschen und eine schrumpfende Mittelschicht zunehmend, was die Nachwuchsgewinnung erschwert. Auch lange Fahrtwege zur Arbeit oder Ausbildung reduzieren die verfügbare Zeit für Vereinsaktivitäten.6 So haben viele Vereine Probleme, Mitglieder zu halten und neue zu gewinnen, was mancherorts den Fortbestand des Vereins im Sinne der spielfähigen Besetzung gefährden kann.
– Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft führt zu einer Vervielfältigung und Ausdifferenzierung von Freizeitinteressen.7 Musikalische Vereinigungen konkurrieren mit einer Vielzahl von Freizeitmöglichkeiten, die flexibler und unverbindlicher gestaltet werden können. Die zunehmende Digitalisierung schafft fast unendlichen Zugang zu Online-Inhalten, die nach Auffassung von AkteurInnen musikalischer Vereinigungen mit Vereinsangeboten konkurrieren.8
– Die COVID-19-Pandemie hat auch musikalische Vereinigungen stark betroffen. Viele Veranstaltungen und Auftritte mussten abgesagt werden, was nicht nur finanzielle Einbußen zur Folge hatte, sondern auch die soziale Bindung innerhalb der Vereine, die eine Stärke von Musikvereinen mit Blick auf motivationale Faktoren für das Musizieren und Musizierenlernen sind, belastete.9 Die Pandemie hat zudem gesellschaftliche Trends zur Unverbindlichkeit verstärkt, sodass einige Menschen seither eher Abstand von festen, wöchentlichen Verpflichtungen und langfristigen Planungen nehmen, um mehr terminliche Freiheit zu haben. Dies führt jedoch dazu, dass regelmäßige Probetermine und langfristig geplante Konzerte zunehmend schwieriger durchzuführen sind und mehr Personen kurzfristig absagen.
– Menschen möchten Sport und Musik zu individuell präferierten Zeiten ausüben, was mit den festen Strukturen eines traditionellen Vereins oft nicht vereinbar ist.10 Die Bereitschaft, sich langfristig zu engagieren, nimmt ab, was die Besetzung von Ehrenämtern in der Vereinsstruktur erschwert.11 Hier besteht ein Zusammenhang zum bereits erwähnten Trend zur Unverbindlichkeit.
Musikalische Vereinigungen stehen dementsprechend vor der Herausforderung, ihre traditionellen Strukturen an sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen anzupassen. Sie müssen innovative Wege finden und flexible Angebote schaffen, um neue Mitglieder, insbesondere junge Menschen, anzusprechen, ohne dabei jedoch gleichzeitig ihre kulturelle Bedeutung in den Gemeinden zu verlieren sowie ihre Identität aufzugeben.
1 Mit „musikalischen Vereinigungen“ sind alle als Verein organisierten Zusammenschlüsse von Menschen, die gemeinsam Musik machen, gemeint (z. B. Chöre, Blaskapellen, Fanfarenzüge, Akkordeon- oder Zupforchester). Das Wort „Musikverein“ hingegen bezieht sich hier auf sinfonisch besetzte Blasmusikvereine.
2 Laurisch, Matthias: „Das Klingen abseits urbaner Zentren: Wie Musikvereine ihre ländlichen Räume prägen und gestalten“, 2018, www.kubi-online.de/artikel/klingen-abseits-urbaner-zentren-musikvereine-ihre-laendlichen-raeume-praegen-gestalten (Stand: 29.4.2025).
3 Overbeck, Lorenz: „Zur Bedeutung des vereinsgetragenen Amateurmusizierens in ländlichen Räumen“, 2018, www.kubi-online.de/artikel/zur-bedeutung-des-vereinsgetragenen-amateurmusizierens-laendlichen-raeumen (Stand: 29.4.2025).
4 Laurisch, a. a. O.
5 Overbeck, a. a. O.
6 Laurisch, a. a. O.
7 Biber, Mirsad: „Auswirkungen der Individualisierung auf Sportvereine“, 2020, https://de.linkedin.com/pulse/auswirkungen-der-individualisierung-auf-sportvereine-mirsad-biber (Stand: 29.4.2025).
8 Fanfarenzug Academy: „Generation Z und die Musikvereine“, o. J., https://fanfarenzug-academy.de/generation-z-und-die-musikvereine (Stand: 29.4.2025).
9 Link, Alexandra: „Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Musikvereine“, 2020, https://blasmusikblog.com/ die-auswirkungen-der-corona-krise-auf-die-musikvereine (Stand: 29.4.2025).
10 Biber, a. a. O.
11 Laurisch, a. a. O.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2025.