Röbke, Peter

Auf der Suche nach tieferem Verständnis

Der Cellist und Pädagoge Gerhard Mantel ist im Alter von 81 Jahren gestorben

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2012 , Seite 42

Gut erinnere ich mich an einen Kurs von Gerhard Mantel an der Wiener Musikuniversität vor etwa zehn Jahren: Da waren sie, die berühmten Mantel-Themen und -Begriffe, von denen viele in den instrumentalpädagogischen Sprachgebrauch einwandert sind, ohne dass die jüngere Generation noch wüsste, wer als erster etwa vom „Üben mit rotierender Aufmerksamkeit“ geredet hat; die überzeugende physikalische Demontage des Gerade-Streich-Dogmas („der schiefe Bogen“); das kreative Potenzial des „Als-Ob“; der Zusammenhang von Spielbewegung und Ausdrucksgeste; die übergeordneten Bewegungen; die Bewegtheit als Voraussetzung für präzise Bewegungen („wie man nachts mit dem Autoschlüssel das Schlüsselloch trifft“); der konstruktive Umgang mit Fehlern („die Identifizierung der Analogiefallen“) und so vie­les mehr. Dann der Rückzug unseres Referenten ins Hotel und kurzer Schlaf, anschließend ein Konzert mit den schwersten der oh­ne­hin schweren Solissimo-Werke: die beiden Solo-Sonaten von Bernd Alois Zimmermann und Zoltán Kodály und eine der Bach-Suiten.
Wir wussten nicht, worüber wir mehr staunen sollten: über die unglaubliche Energie dieses großen und vitalen Mannes, der eben noch eine große Gruppe von Studierenden mit nicht nachlassender Leidenschaft unterrichtet hatte und jetzt, wenig später, voller Konzentration dieses anspruchsvolle Programm realisierte, oder über die Art und Weise, wie alles, was Gerhard Mantel im Kurs angesprochen hatte, nun ohne gedanklichen Rest in einem beglückend vitalen und plastischen Musizieren aufging!
Oft sprach Gerhard Mantel davon, dass er Physiker geworden wäre, wenn sich nicht der Musiker ergeben hätte – und mancher fragte sich, ob denn wirklich eine so präzise naturwissenschaftliche Analyse notwendig sei wie schon in seinem Erstling Cellotechnik. Aber da hätte man nur den halben Mantel: Immer ging es ihm um ein tieferes Verständnis spieltechnischer und künstlerischer Freiheit, um die Fülle gestalterischer Möglichkeiten, die auf dem Weg des Nachdenkens und Experimentierens zu gewinnen ist. Und immer war Gerhard Mantel zu einer saftigen Polemik gegenüber jenen bereit, die glauben, auf kurzem Wege und durch puren Appell die kreativen Quellen sprudeln lassen zu können („Lass es kommen!“), wobei seiner Lust zu streiten immer Großzügigkeit, Herzlichkeit und Humor innewohnten.
Oft habe ich gedacht, dass die nie versiegenden Inspirationen, die von Gerhard Mantel ausgingen und für die er nicht nur geschätzt, sondern regelrecht verehrt wurde (noch mit 80 hat er bei uns in Wien zwei Tage lang Studierenden aller Instrumente unaufhörlich die Augen für Interpretationsalternativen geöffnet…), dass also diese Fähigkeit, das Denken und Handeln von MusikerInnen und MusikpädagogInnen immer wieder in Bewegung zu bringen, vielleicht etwas damit zu tun hat, dass er – trotz seiner langjährigen Professur an der Frankfurter Musikhochschule und seiner Konzertkarriere – quasi von außen auf den Betrieb schaute und nie wirklich ein „Mann des Systems“ war. Wie etwa auch Alfred Brendel war Gerhard Mantel in vielem ein begnadeter Autodidakt, nie hat er an einer Musikhochschule studiert und auch die Meisterkurse bei André Navarra hielten methodisch wohl nicht viel mehr bereit als dessen Aufforderung an den jungen Mantel: „Plus pratiquer!“ Aber wie denn zu üben und musikalisch zu arbeiten wäre, das wurde Gerhard Mantel zum Lebensthema und zum Gegenstand jener großen Zahl von Büchern, die so präzise argumentieren und einfach so nützlich sind.
In seiner Novelle über das Marionettentheater hat uns Heinrich von Kleist jede Illusion genommen, dass der sich seiner selbst bewusste Mensch auf direktem Weg zurück ins Paradies und in den Stand der Unschuld vor dem Naschen am Baum der Erkenntnis gelangen könne, also unmittelbar der Unbefangenheit des Kindes oder der animalischen Anmut des Tanzbären bzw. der Grazie der mechanischen Marionette teilhaftig werden könne. Doch: „Wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, findet sich die Grazie wieder ein.“
Lieber Gerhard, mir kommt es so vor, als stündest du an einer kleinen Pforte auf der Rückseite des Paradieses und hättest tatsächlich einen Schlüssel in der Hand – danke!