Cohen-Shalit, Nir
Aufführung oder Übung?
Probenpraxis im 19. Jahrhundert
Die Probenpraxis von Orchestern im 19. Jahrhundert unterschied sich deutlich von der heutigen. Ein historischer Rückblick fragt, was sie kennzeichnete, wie sie aktuellen Standards den Weg bereitete und was wir heute von ihr lernen können.
Konzertante „Aufführungen“ großer Ensembles (Orchester) anstelle ihrer Einbindung in gesellschaftliche und liturgische Veranstaltungen führten Anfang des 19. Jahrhunderts zu zwei wesentlichen Veränderungen.1 Erstens benötigte das im Vergleich zu barocken, galanten und klassischen Vorgängern erheblich größere romantische Orchester eine Person zur Probenleitung. Aus Kapellmeister (Leitung vom Klavier) und Konzertmeister (Leitung vom ersten Geigenpult) entwickelte sich so die Position des Dirigenten, die zugleich die Entstehung komplexerer Werke begünstigte. Zweitens erhöhte die Etablierung öffentlicher Orchesterkonzerte die Nachfrage nach gedruckten Werken und trieb das Wachstum des Musikverlagswesens voran. Zuvor wurden Werke für bestimmte Anlässe komponiert und mit Beteiligung der Komponisten aufgeführt.
Proben – wozu?
Die Verwendung des Wortes „Probe“ (engl. „rehearsal“) in seiner heutigen Bedeutung – ein Ereignis, bei dem die Interpretation vereinbart wird – entsprach nicht der damals gängigen Praxis. Zum Wort „Probe“ schrieb Heinrich Christoph Koch 1802 in seinem Musikalischen Lexikon: „Es ist unmöglich, daß bei der Aufführung großer Tonstücke die Ausführer der verschiedenen Stimmen derselben sogleich prima vista den eigentlichen Charakter eines jeden besondern Teils solcher Tonstücke fassen, den wahren Sinn jeder Stelle treffen, die Begleitung dem Charakter derselben gemäß einrichten, den Vortrag jeder besondern Stimme dem Ganzen anpassen, und überhaupt alles, was zur guten Ausführung notwendig ist, in Anwendung bringen können, so lange ihnen der Charakter und Inhalt eines solchen Tonstückes noch ganz unbekannt ist.“2 Bei kleineren Werken wurde also von den Musikern erwartet, ihre Teile ohne umfangreiche Probe in Beziehung zum Ganzen zu setzen. Besonders bemerkenswert ist zudem, dass bei bekannten Werken die Probe daher möglicherweise entbehrlich war.
Notwendig waren sie jedoch aus einem anderen Grund. Thomas Busby schrieb 1811, dass Proben „insbesondere bei neuer Musik unbedingt notwendig sind; nicht nur, um sicherzustellen, dass die Stimmen korrekt abgeschrieben wurden […], sondern auch, um dem Komponisten die Gelegenheit zu geben, […] ausgehend von der Wirkung Änderungen und Verbesserungen in der Komposition vorzunehmen“.3 Damit nennt Busby zwei zentrale Probenzwecke: Überprüfung der Genauigkeit der Stimmen sowie Möglichkeit für den Komponisten, das Werk zu verfeinern – Zwecke, die wir heute eher nicht mit Proben in Verbindung bringen.
Proben als Privataufführungen
Die Definition von Proben als private Aufführungen zur Überprüfung der Stimmgenauigkeit findet sich in nahezu allen historischen Quellen des 19. Jahrhunderts.4 So beschrieb Paul Oscar 1873 die Probe als „eine der öffentlichen Aufführung eines Tonstücks vorangehende Privatübung der Mitwirkenden, in welcher alles zum vollkommenen Vortrag des Werkes Gehörende studiert wird“.5 Der Hinweis auf Übung ist im Quellenvergleich selten.
1 Vorläufer der Orchesterkonzerte als gesellschaftliches Ereignis und des Orchesters als Institution gab es bereits im 18. Jahrhundert. Für weiterführende Informationen: Spitzer, John/Zaslaw, Neal: The Birth of the Orchestra: History of an Institution, 1650-1815, New York 2004; Weber, William: The Great Transformation of Musical Taste: Concert Programming from Haydn to Brahms, New York 2008.
2 Koch, Heinrich Christoph: Musikalisches Lexikon, Frankfurt am Main 1802, S. 1171 f.
3 übersetzt aus dem Englischen: Busby, Thomas: A Complete Dictionary of Music, 3rd edition, London 1811.
4 Zu berücksichtigen ist ebenso, dass veröffentlichte Beschreibungen musikalischer Praktiken nicht immer genau sein müssen. Möglicherweise spiegeln sie eine allgemeine Vorstellung wider, die mehr oder weniger zutreffend ist, sprich: abweichen kann von der Realität.
5 Oscar, Paul: Handlexikon der Tonkunst, zweiter Band, Leipzig 1873, S. 290.
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