Oberschmidt, Jürgen
Aus den Händen gewachsen oder frei aus dem Haupte entsprungen?
Eine kritische Betrachtung von Flodoard Geyers Warnung vor dem „Komponieren am Piano“ (1878)
135 Jahre ist es her, dass diese Maßregelungen, erschienen in der Zeitschrift Der Klavier-Lehrer,1 dafür sorgen sollten, das Universalinstrument nicht als handwerkliches Experimentierwerkzeug für die höchste Geistestätigkeit zu missbrauchen, die dem praktischen Musizieren so weit enthoben scheint, nämlich Instrumental- und Vokalklänge komponierend aufs Papier zu bringen. Vermutlich verbirgt sich hinter dem Kürzel Fl. G. der bereits 1872 verstorbene Komponist Flodoard Geyer, der in Berlin am Stern’schen Konservatorium Komposition unterrichtete. Und es wird wohl seinem Kompositionsschüler Emil Breslaur zuzuschreiben sein, dass die nachgelassenen Texte dann posthum unter der Rubrik „Winke und Rathschläge“ im Klavier-Lehrer veröffentlicht wurden.
Die hier transportierte Botschaft ist eindeutig: Wahre Musik entsteht im Kopf und nicht mit haptisch erfühlenden Händen, die lediglich auf Tasten tasten. Hinweise dafür, dass sich die großen Genies dank ihrer göttlichen Inspirationen nicht den Fesselungen eines solchen Experimentierwerkzeugs ausliefern mussten, liefern die manchmal oft verklärenden, beinahe mythischen Erzählungen, nach denen große Meisterwerke stets in Komponierhäuschen, bei Spaziergängen in der freien Natur oder im Wolkenkuckucksheim entstanden sind.
Die Last solcher Ideale wird deutlich, wenn wir die sich daran anschließenden Selbstinszenierungen etwas genauer unter die Lupe nehmen, etwa die von Max Reger, des „letzten Riesen in der Musik“, wie Paul Hindemith den von ihm verehrten Komponisten bezeichnete: „Jahrelang reift ein Werk in meinem Hirn. Über kurz oder lang platzt die Geschichte, und ich sitze eines Tages am Schreibtisch und schreibe Noten.“2
1 Fl. G.: „Komponieren am Piano“, in: Der Klavier-Lehrer, hg. von Emil Breslaur, Nr. 24 vom 15. Dezember 1878.
2 zit. nach Stein, Fritz: Max Reger, Potsdam 1939, S. 85.
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