© Eva-Maria Blum

Botzet, Katharina

Aus der Stille in den Klang

Ein interdisziplinäres musikpädagogisches Integrationsprojekt

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , Seite 50

Seit 2014 feilt die Geigerin Elena Kondraschowa an ihrer Idee, mit Gei­gespielen hörgeschädigten Kindern die Musik näher zu bringen und sie dadurch besser in eine „hörende Welt“ zu integrieren. Zum Schuljahr 2018/19 konnte das Projekt an der Hartwig-Claußen-Schule, einem Förderzentrum mit Schwerpunkt Hören, in Hannover starten.

Ich treffe Elena Kondraschowa im Foyer der Hartwig-Claußen-Schule in der Südstadt von Hannover. Im dortigen Förderzentrum mit Schwerpunkt Hören unterrichtet die studierte Geigerin und Musikpädagogin seit Beginn des Schuljahrs 2018/19 alle acht Kinder einer dritten Grundschulklasse auf der Geige. Jedes dieser Kinder erhält bei ihr einmal wöchentlich parallel zum normalen Schulunterricht eine Einheit Einzelunterricht. „Bis hierher war es ein langer Weg“, erzählt die gebürtige Russin, und ich weiß sofort, wovon sie spricht. Auch wenn wir mit unseren Ideen niemandem etwas aufzwingen wollen, so sind doch die Vorurteile und eine weit verbreitete Ablehnungshaltung gegenüber Vorhaben wie diesem auch mir von meiner Arbeit mit „Fühl mal, wie du klingst!“* allzu gut bekannt.
Das Interesse an der Arbeit mit hörgeschädigten Menschen kommt auch für Elena aus dem eigenen familiären Umfeld. Ihre hörgeschädigte Schwester lernte die Deutsche Gebärdensprache, als die Familie vor 30 Jahren nach Deutschland kam, und kommuniziert im Alltag sowohl laut- als auch gebärdensprachlich. 2014 fasste Elena den Entschluss, hörgeschädigten Kindern über das Geigespielen die Musik näher zu bringen. Sie stellte ihre Idee für hörgeschädigte Kinder mit und ohne Cochlea-Implantat unter dem Titel „Aus der Stille in den Klang – Ein interdisziplinäres musikpädagogisches Integrationsprojekt“ in der Medizinischen Hochschule Hannover und der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover vor, holte Meinungen von Ärzten und MusikerInnen ein.
Ob es wohl für TrägerInnen eines Cochlea-Implantats möglich ist, durch das Erlernen der Violine und das Erspüren von Vibrationen auf dem Schlüsselbein Musik zu „hören“, Tonhöhen und Klangfarben wahrzunehmen? Es dauerte Jahre, bis sich die Möglichkeit der Umsetzung ergab. Entscheidend dazu beigetragen hat Barbara Eßer-Leyding, Leiterin des Cochlear Implantat Centrums Wilhelm Hirte in Hannover. Sie stellte den Kontakt zur Hartwig-Claußen-Schule und zu einem potenziellen Instrumenten-Sponsor her. Und schließlich war es so weit: Zum Schuljahr 2018/19 sponserte die Kerry-Blue-Stiftung Instrumente und Bögen für alle SchülerInnen des ersten Projektjahrs. Björn Lampe, ein junger und engagierter Geigenbaumeister aus Hildesheim, passte alle Geigen für das jeweilige Kind individuell an. Schließlich finanziert die Aktion „Kindertraum“ über den Fachbereich Inklusion der Kreismusikschule Peine als Partner des Projekts „Aus der Stille in den Klang“ die Personalkosten für den Geigenunterricht. Das Projekt zeigte schnell große Erfolge: Bereits wenige Wochen nach den ersten Unterrichtseinheiten im September 2018 spielten alle Kinder beim Weihnachtskonzert der Schule mit.

Gesteigerte ­Aufmerksamkeit

An diesem Freitagvormittag darf ich bei vier Kindern hospitieren. Wie bei normalhörenden Kindern auch ist der Zugang zum Instrument für jedes Kind etwas anders, die Art und Weise des Musizierens unterscheidet sich ebenso wie die Motivation zu üben und die grundsätzliche musikalische Wahrnehmungsfähigkeit.
Die elfjährige Eve ist die erste Schülerin. Wir holen das Mädchen aus der Klasse ab, der Unterricht findet im Musikraum der Schule statt. Zu Beginn soll Eve Töne, die Elena am Klavier anschlägt, nachsingen. Nach diesem kurzen Anfangsritual darf Eve die Geige holen. Diese liegt normalerweise unter der Woche im Nebenzimmer des Musikraums, da Eve bislang zuhause nicht übt. Eve spielt auf der leeren A- und E-Saite. Es fällt ihr sichtlich schwer, sich zu konzentrieren. Ob das an der eingeschränkten Hörfähigkeit liegt, ist zwar nicht eindeutig zu bejahen, wäre aber eine mögliche Erklärung, da das Hören, vor allem das genaue Zu- und Hinhören, eine besondere Herausforderung darstellt. Elena fragt Eve, ob ihre Geige denn einen Namen hätte? Kurzerhand wird das Instrument „Bella“ getauft („wie meine Freundin Isabella“). Mit dieser Namensgebung vollzieht sich eine deutliche Veränderung für Eve, die sich nun mit der Geige identifiziert. „Ich will anfangen, Bella will auch anfangen.“ – Und vor allem nicht mehr aufhören: Als Elena den Unterricht beenden will, legt Eve die Geige gar nicht mehr aus der Hand. Sie nimmt sie dieses Mal schließlich sogar mit nach Hause, weil sie nun üben möchte.
Havin trägt ein Cochlea-Implantat. Sie ist zuhause die jüngste von insgesamt drei Kindern, wobei ihre beiden Schwestern normalhörend sind. Heute kommt Havin zwar alleine in den Unterricht, aber sonntags erhält sie ein zweites Mal Unterricht bei Elena – und dorthin kommen dann ihre Schwestern oder auch ihre Eltern schon mal mit. Umgekehrt geht auch Havin manchmal mit in den Klavierunterricht der Schwestern. Das Interesse an der Sache und die Unterstützung durch das Elternhaus sind groß, was für das Projekt extrem wichtig ist. Das Mädchen hat ihre Aufmerksamkeitsspanne seit dem ersten Gei­genunterricht von nur fünf auf fast 20 Minuten gesteigert. Heute spielt sie das „Dackellied“, ein rhythmisierter Wechsel langer und kurzer Töne auf der leeren D-Saite.
Mavan ist zehn Jahre alt und trägt seit 2012 beidseitig Cochlea-Implantate. Der Augenblick, in dem der Junge zur Geige greift, verändert die Atmosphäre im Raum: Mavan spielt nicht nur souverän leere Saiten, nein, er ist ganz bei sich und seiner Musik. Er lauscht den Tönen nach, das Instrument verschmilzt quasi mit seinem Körper. Es ist ein wahres Geschenk, diesen berührenden Moment mitzuerleben. Die Körperhaltung mit der Geige verrät, dass Mavan am liebsten in sein Instrument hineinkriechen würde: Er krümmt sich zusammen, um dem Klang näher zu sein. Natürlich gehört eine gute Haltung aber auch zu den Unterrichtsinhalten, doch Mavan lernt schnell, ist begierig zu spielen und zu entdecken. Die Geige nimmt er inzwischen immer mit nach Hause und verschwindet beim Üben in seine eigene Klangwelt.
Zum Schluss betreten zwei Mädchen den Musiksaal: Die neunjährige Zoe und ihre achtjährige Schwester Kim. Die beiden Töchter normalhörender Eltern tragen seit Sommer 2018 beidseitig Cochlea-Implantate. Das zweite Cochlea-Implantat hatte Zoe sich damals ausdrücklich gewünscht. „Mit dem Implantat klingt es besser.“ Die Mädchen wissen genau, dass sie das Hören mit den Implantaten neu lernen müssen und dass es dafür auch Übungen gibt. Auf den ersten Blick bzw. auf die ersten gehörten Töne hin, haben sie damit aber wenig Probleme: Zoe kann Töne vom Klavier beinahe fehlerfrei nachsingen. In einer zweiten Runde soll sie die Töne singen, bevor Elena sie anschlägt. Auch das gelingt der Neunjährigen in den meisten Fällen. Aber hier fällt dann doch auf, dass das Hinhören manche Schwierigkeit birgt. Zoe drückt das tiefe a auf der Klaviatur und mault: „Das ist ein blöder Ton, das klingt wie ein Roboter.“ Ob es eine Möglichkeit gäbe, den Roboter wegzubekommen? „Ja. Der geht dann weg, wenn ich geübt habe.“

Musik für die ganze Familie

Die Geige aber ist für das Mädchen ein absoluter Glücksgriff. Zwar hatte sie sich im Frühjahr 2018, als Elena zur Instrumentenvorstellung in die Schule gekommen war, geweigert, die Geige überhaupt anzufassen – war dann aber nach Hause gekommen und hatte verkündet, dass sie nun Geige spielen lernen würde. Die unmittelbare Reaktion der Eltern war, gleich ein Schülerinstrument zu kaufen, noch bevor es einen weiteren Kontakt zu Elena gegeben hatte. Die Rechnung ging auf: Zoe spielt heute Geige, als hätte sie nie etwas anderes getan. Anders als ihre KlassenkameradInnen spielt sie schon richtige Stücke; nur leere Saiten zu spielen, war ihr sehr schnell nicht genug.
Deshalb bekommt auch Zoe an Sonntagen ein zweites Mal wöchentlich Unterricht bei Elena. Ihre ganze Familie begleitet sie, alle nehmen aktiv am Unterricht teil. Das Stimmen der Geige ist eine der Hör-Herausforderungen. Elena gibt Zoe die Aufgabe, genau hinzuhören, wann der Ton der Saite mit dem Ton der angeschlagenen Klaviertaste übereinstimmt. Dann spielen sie gemeinsam: Zoe auf der Geige, begleitet von Elena am Klavier. Nun geht es um das gemeinsame Beginnen und das gemeinsame Beenden eines Stücks, das gemeinsame Atmen, den Blickkontakt, das Aufeinander-Hören, das Miteinander-Musizieren. Der Vater stellt sich mit ans Notenpult, zählt die letzten Takte mit, die Mutter filmt mit dem Handy, Kim schaut gebannt zu. „Ich will das jetzt ganz schaffen, dann kann ich alles!“, ruft Zoe. Elena erzählt, dass Zoe ihren Vater zuhause dann selbst auf der Geige unterrichtet. Es ist wirklich schön zu sehen, wie die ganze Familie im Musizieren der Tochter aufgeht, wie viel Unterstützung sie ihr geben. Wenn diese Kinder auch manches nicht hören, so spüren sie doch die Musik – und dieser Zauber überträgt sich auf alle Anwesenden. Nicht nur im familiären Umfeld löst diese Neuheit große Neugierde und Begeisterung aus. Zoe wurde, nachdem sie gemeinsam mit Elena einen kleinen Auftritt in der Mensa des Cochlea-Implantat-Zentrums hatte, eingeladen, auch beim Sommerfest etwas vorzuspielen. Diese Reaktionen sind für das Mädchen der notwendige Nährboden, an sich zu glauben und weiterzumachen. „In der Schule spielt niemand Geige so wie ich“, verrät sie mir grinsend.
Schon im Hinausgehen spricht Zoes Mutter mich noch einmal an: „Sie sind doch Sängerin, singen Sie doch mal was!“ Ich muss schmunzeln und wir einigen uns auf Wunsch der Mädchen darauf, gemeinsam Alle meine Entchen zu singen. Ja, nicht nur Zoe und Kim, auch Mama und Papa sollen mitsingen, was sie etwas widerwillig dann auch tun. „Das klingt so schön!“, kommentiert Kim. Mit einem Ohrwurm von Bruder Jakob verabschiedet sich die Familie schließlich und da sie die Letzten für heute waren, folgt auf den Klang der verhallenden Stimmen nun auch für uns wieder die Stille.
Was sich Elena für die Zukunft wünscht? Ein inklusives Orchester stellt sie sich vor, mit normalhörenden und hörgeschädigten Kindern – erste Gespräche darüber laufen aktuell. Das ist allerdings auch wieder eine Frage der Organisation. Dass es beispielsweise einen Fahrdienst von der Schule zum Orchesterprobenort und danach nach Hause geben müsste, ist nur einer der zu bedenkenden Aspekte. Außerdem würde Elena das Projekt gerne kinderpsychologisch begleiten lassen, um die Veränderungen der Kinder durch das Projekt auch wissenschaftlich dokumentieren zu lassen. Große Unterstützung erhält Elena nach wie vor vom Cochlear Implantat Centrum Hannover und dem Deutschen Zent­rum für Musiktherapeutische Forschung Heidelberg, insbesondere durch die Vorstandsvorsitzende Heike Argstatter. Doch da es sich hier um ein größtenteils ehrenamtliches und damit No-Budget-Projekt handelt, ist die Gewinnung professioneller Mitarbeiter natürlich ein Problem. Aber Elena Kondraschowa wird nicht aufgeben, sie steht hinter ihrer Idee und freut sich über jeden kleinen Erfolg ihrer SchülerInnen, die durch sie und durch die Geige aus der Stille in den Klang gefunden haben. „Es ist ein Traum – und Träume gehen in Erfüllung, wenn man sich darum bemüht!“

* „Fühl mal, wie du klingst!“ ist eine Initiative zur Förderung und Entwicklung gesangspädagogischer Angebote für Hörgeschädigte und Gehörlose, siehe auch üben & musizieren 2/2018, S. 46 ff.

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