Lindmaier, Hannah
Balancieren zwischen Nähe und Distanz
Drei Perspektiven auf machtsensibles Verhalten im Instrumentalunterricht
Macht ist zwischen Lehrenden und Lernenden im Instrumental- und Gesangsunterricht nicht symmetrisch verteilt. Wie können Lehrende sensibel mit ihren Handlungsprivilegien umgehen? Wie kann der Balanceakt gelingen, Beziehungen zu SchülerInnen so zu gestalten, dass vertrauensvolle und intensive musikalische Arbeit möglich ist und zugleich eine professionelle Distanz gewahrt wird, die vor kritischen Grenzüberschreitungen schützt?
Die Rollenverteilung zwischen Lehrenden und Lernenden bedingt ein Machtgefälle, das kennzeichnend für pädagogische Beziehungen ist. Zum einen besteht ein notwendiger Kompetenzunterschied auf musikalischer Ebene: Lehrende sind ExpertInnen für Musik, für das Spielen ihres jeweiligen Instruments oder für das Singen, zum anderen verleiht ihnen ihre pädagogische Expertise Handlungsmacht, was die Gestaltung nahezu aller Unterrichtselemente betrifft. Lernende auf der anderen Seite lassen sich vertrauensvoll auf die Lehrperson und ihren Unterricht ein, begeben „sich gleichsam in ihre Hände“.1 Dies steht in gewissem Widerspruch zu einem partnerschaftlichen Arbeiten auf Augenhöhe, einem gemeinsamen Entdecken der individuellen Zugänge zum Musizieren, das für gelingende Lernprozesse unabdingbar ist.2
Mit den Begriffen Nähe und Distanz rücken räumliche Dimensionen des Verhaltens im Unterricht ins Blickfeld. Insbesondere über dieses Nähe- und Distanzverhalten und nonverbale Kommunikationsformen wie Mimik, Gestik oder Körperhaltung werden Beziehungsaspekte ausgehandelt, also auch Machtpositionen und Statusfragen geklärt. Gleichzeitig sind diese Verhaltensweisen auch Teil des methodischen Unterrichtshandelns. Diese Mehrdeutigkeit soll in den nun folgenden drei Perspektiven auf räumliches und körperliches Verhalten und Wahrnehmen exemplarisch ausgelotet werden.
Positionierungen im Raum
Instrumentalunterricht unter Corona-Bedingungen: Ich sitze mit gut zwei Meter Abstand gegenüber von meinem achtjährigen Gitarrenschüler. Er bemüht sich, ein „frisch“ geübtes Kinderlied durchzuspielen. Ab und zu verrutschen die Finger der linken Hand, die Saiten schnarren oder ein falscher Ton erklingt. Er hält inne, korrigiert seine Position und – vergisst, an welcher Stelle im Lied er stehen geblieben ist. Ich versuche, ihn über die Entfernung hinweg zu unterstützen, singe ihm die nächste Phrase vor, schlage ihm eine mögliche Einstiegsstelle vor, beschreibe die Position des Takts auf dem Notenblatt. Ich wünsche mich an seine Seite, könnte ich ihm doch mit einer kurzen Geste helfen, wieder ins Spielen zu finden, der Musizierprozess wäre kaum unterbrochen. Ja, vielleicht wäre seine linke Hand gar nicht verrutscht, hätte er nicht für mich als Publikum gespielt, sondern mit mir neben ihm, mit gemeinsamer Konzentration auf die Musik und seine Spielbewegungen.
In den vergangenen Monaten mussten wohl die meisten Instrumental- und Gesangslehrenden neue, teils ungewohnte Positionen in Relation zu ihren SchülerInnen einnehmen. Unterrichtsräume wurden umgestaltet, feste Plätze markiert. Schmerzlich wird festgestellt, wie methodisch und unterrichtsdramaturgisch sinnvoll doch die verschiedenen Standorte im Raum sind, die zuvor wie selbstverständlich eingenommen wurden; wie unpassend die distanzierte Positionierung einer Vorspielsituation für intensive gemeinsame Arbeit sein kann. Gleichzeitig verschafft die Distanz den Lernenden mehr Raum und Luft, eigenständiges Musizieren wird angeregt, vielleicht finden weniger Unterbrechungen durch Lehrende statt. Diese sind weniger „nah dran“ und können dafür ganzheitlicher wahrnehmen. Corona bietet also auch die Chance, kreativ nach Lösungen zu suchen, für die gewohnheitsmäßig in großer Nähe unterrichtet wird – sei es, dass man etwas in Noten zeigt, eine Spielbewegung oder Haltung korrigiert, gemeinsam an einem Instrument spielen möchte um etwa die Komplexität eines Spielvorgangs zu reduzieren oder auch um etwas mit diagnostischem Blick genau sehen zu können.
Doch vielleicht ist die übliche Nähe im Instrumental- und Gesangsunterricht gar nicht immer angenehm. Ich arbeite mit IGP-Studierenden in Didaktik-Seminaren häufig zu diesem Thema. Viele erzählen von unangenehmen Erfahrungen, die sie im Laufe ihrer musikalischen Lernwege gemacht haben. Ich spreche nicht (unbedingt) von intendierten Grenzüberschreitungen, sondern von zum Teil harmlos anmutenden Situationen wie dem Mundgeruch des Lehrers, dem man nicht entkommt, oder dem Gefühl, dass die Lehrerin zu nahe sitzt, es sich aber unhöflich anfühlen würde, den eigenen Stuhl einige Zentimeter zur Seite zu rücken. Weshalb kann sich diese Nähe unangenehm anfühlen, als wäre einem jemand „auf die Pelle gerückt“? Und warum können sich SchülerInnen dem nicht einfach entziehen?
Von intim bis öffentlich: menschliche Distanzzonen
Der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall untersuchte ab den 1960er Jahren das Raumverhalten von Menschen als Teil deren zwischenmenschlicher Kommunikation und nannte die von ihm begründete Forschungsrichtung Proxemik.3 Seine Untersuchungen führten ihn unter anderem zu einem sehr bekannt gewordenen Modell von vier Distanzzonen, die den räumlichen Abstand von interagierenden Menschen zueinander beschreiben. Abhängig von Vertrautheit und Situation nehmen Menschen Positionen in einer bestimmten Distanz zueinander ein, eine unpassende Positionierung kann als unangenehm empfunden werden. Dieses Distanzempfinden und Raumverhalten ist kulturell erlernt, aber auch abhängig von sozialem Status, Geschlecht und Alter und individuell durchaus unterschiedlich.
Für die Situation des Instrumentalunterrichts ist besonders der persönliche Raum („personal space“) von Interesse, der die beiden nahen Distanzzonen Intimdistanz und persönliche Distanz beinhaltet. Als Richtwert umfasst die persönliche Distanz Interaktionen, die innerhalb von 1,2 Metern Abstand und üblicherweise zwischen Verwandten oder engen Vertrauten erfolgen; innerhalb der Intimdistanz von etwa einem halben Meter finden z. B. Berührungen oder auch sehr vertraute Gespräche statt.4
1 Anja Herold: „Zwischen Nähe und Distanz. Beziehungen im Instrumental- und Gesangsunterricht“, in: Freia Hoffmann (Hg.): Panische Gefühle. Sexuelle Übergriffe im Instrumentalunterricht, Mainz 2006, S. 106. Dieser Aufsatz bietet einen hervorragenden Überblick über das Bedingungsgefüge von Unterrichtsbeziehungen, gerade auch im Hinblick auf Machtkonstellationen und potenzielle Grenzverletzungen.
2 vgl. Wolfgang Lessing: „Paradoxie als Regel. (Musik-) Pädagogische Antinomien im instrumentalen Gruppenunterricht“, in: Natalia Ardila-Mantilla/Peter Röbke/ Christine Stöger/Bianka Wüstehube (Hg.): Herzstück Musizieren. Instrumentaler Gruppenunterricht zwischen Planung und Wagnis, Mainz 2016, S. 78 ff. Lessing beschreibt diesen Widerspruch als Symmetrieantinomie, die es im Unterricht im Blick zu behalten gilt und die vor allem in Momenten des gemeinsamen Musizierens überwunden werden kann.
3 vgl. etwa Edward T. Hall: Die Sprache des Raumes, Düsseldorf 1976.
4 Die hier erwähnten Grenzen der einzelnen Distanzzonen beziehen sich auf die nordamerikanische Mehrheitsgesellschaft, vgl. Edward T. Hall: „Proxemics“, in: Current Anthropology 9/1968, S. 92 ff., www.jstor.org/ stable/2740724 (Stand: 23.3.2020). Für unsere mitteleuropäische Region ermittelte er ähnliche Werte, wobei seine Forschungsmethoden und -ergebnisse schon damals wissenschaftlich durchaus umstritten waren, vgl. etwa Mark Baldassare/Susan Feller: „Cultural Variations in Personal Space: Theory, Methods, and Evidence“, in: Ethos 3/1975, S. 481-503, www.jstor.org/ stable/639996 (Stand: 23.3.2020).
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2021.